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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Sache blitzschnell, doch bevor ich etwas unternehmen konnte, war sie schon entschieden: Siedler kam auf uns zu und geleitete uns, höflich und zugleich energisch, zu dem Ehrengast, der uns jetzt zwei oder drei Schritte entgegenkam. Er begrüßte uns wie alte Freunde, ja, so war es, er begrüßte uns geradezu herzlich.
    Dieser dezente Herr war ein Verbrecher, einer der schrecklichsten Kriegsverbrecher in der Geschichte Deutschlands. Er hatte den Tod unzähliger Menschen verschuldet. Noch unlängst hatte er zu den engsten Mitarbeitern und Vertrauten Adolf Hitlers gehört. Er war vom Internationalen Militärtribunal in Nürnberg zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Rede ist von Albert Speer.
    Worüber man sich unterhielt, weiß ich nicht mehr. Aber was immer ich äußerte, Speer nickte mir zustimmend und freundlich zu, als wolle er sagen: Der jüdische Mitbürger hat recht, der jüdische Mitbürger sei willkommen. Auf einem Tischchen lag, wenn ich mich nicht ganz irre, auf einer Samtdecke das Buch, das hier und jetzt gefeiert wurde: ein Band von 1200 Seiten.
    Auf dem schwarzen Umschlag war mit großen weißen Buchstaben der lapidare Titel gedruckt: Hitler. Was diese Ausstattung des Buches suggerieren sollte, worauf hier mit Entschiedenheit Anspruch erhoben wurde, konnte man nicht verkennen: Pathos war es und Monumentalität. Speer sah es offensichtlich mit Genugtuung. Verschmitzt lächelnd blickte er auf das feierlich aufgebahrte Buch und sagte bedächtig und mit Nachdruck: »Er wäre zufrieden gewesen, ihm hätte es gefallen.«
    Bin ich vor Schreck erstarrt? Habe ich den Massenmörder, der hier respektvoll über seinen Führer scherzte, angeschrien und zur Ordnung gerufen? Nein, ich habe nichts getan, ich habe entsetzt geschwiegen. Doch habe ich mir die Frage gestellt, was der Hausherr, der Verleger und Publizist Wolf Jobst Siedler, für ein Mensch sein müsse, er, der es für möglich hielt, Albert Speer einzuladen und uns mit ihm zusammen, er, der wohl nicht einmal auf die Idee gekommen war, uns darauf aufmerksam zu machen, wen wir in seinem Haus treffen würden.
    Indes: Was kümmerte mich Siedler, der nie mein Freund war und es nie sein würde? Aber da war ja noch Fest, und er hat mit Sicherheit gewußt, daß auf diesem Empfang unter den Gästen auch Speer sein werde. Wieso hatte er mich nicht gewarnt oder, zumindest, informiert? Ich glaube es zu wissen: Vermutlich ist ihm überhaupt nicht eingefallen, ich könne, um es vorsichtig auszudrücken, Bedenken haben, einem der führenden Nationalsozialisten die Hand zu reichen und mich mit ihm an einen Tisch zu setzen.
    Und warum ist ihm dies nicht eingefallen? Vielleicht deshalb, weil Fest ein Mensch ist, dessen Ichbezogenheit und Eigenliebe in Selbstsucht, bisweilen sogar in Hartherzigkeit übergehen und häufig den Mangel an tieferem Interesse für andere Menschen zur Folge haben. Eine kühle Aura umgibt seine Person, eine Schutzschicht, auf die er offenbar angewiesen ist. Da er sie braucht, ist er auf sie stolz. Hat das mit Zynismus zu tun? Ich habe Fest nie gefragt, ob er sich für einen Zyniker halte. Nur habe ich den Verdacht, daß von allen Vorwürfen, die man gegen ihn erheben könnte, dieser ihm der allerliebste wäre.
    Der Abend mit Speer war kein besonders günstiges Vorzeichen für meine künftige Zusammenarbeit mit Joachim Fest. Mehr noch: Hier war schon die dramatische Kontroverse, die viele Jahre später zwischen uns entstanden ist, vorgeprägt, hier war dieser Konflikt schon im Keim enthalten. Das alles habe ich im Herbst 1973 nicht gewußt, sondern bestenfalls geahnt – und verdrängt. Denn an einem Streit mit Fest war ich, zumal zu diesem Zeitpunkt, nicht im geringsten interessiert. Deshalb habe ich auch ein Gespräch mit ihm über das unheimliche Treffen vermieden.
    Am 2. Dezember 1973 fuhren wir, Tosia und ich, mit einem Intercity-Zug von Hamburg nach Frankfurt. Wir waren nicht allein: Im selben Abteil reiste nach Frankfurt auch der neuberufene, für Kultur zuständige Herausgeber der »Frankfurter Allgemeinen«. Er sollte sein Amt, ähnlich wie ich das meinige, am nächsten Tag antreten.

 
Der Dichtung eine Gasse
     
    Freundlich und angenehm war mein erster Tag in der Redaktion der »Frankfurter Allgemeinen« durchaus nicht. Beinahe alle Redakteure und Sekretärinnen des Feuilletons gaben sich nicht die geringste Mühe, vor mir zu verbergen, daß ich unwillkommen sei. Das mir zugeteilte Zimmer war verwahrlost, das Mobiliar in einem

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