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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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aus Warschau und mit dem Goethe-Band in der Hand schnell zu dem Ferienheim, in dem ich wohnte. Der Nachruf, den man von mir erwartete, sollte gleich geschrieben werden. Das Wetter war plötzlich umgeschlagen, von der See kam ein rauher Wind. Es schien mir, als sei es unvermittelt etwas kühler geworden.
    Katia Mann habe ich erst im April 1967 kennengelernt. Ich war zusammen mit Hans Mayer nach Zürich gekommen, um im Haus der Familie Mann in der Ortschaft Kilchberg, unmittelbar an der Stadtgrenze von Zürich gelegen, ein für die Reihe »Das Literarische Kaffeehaus« bestimmtes Rundfunkgespräch mit Erika Mann aufzunehmen. An der Pforte stand auf dem Namensschild: »Dr. Thomas Mann«. Ja, tatsächlich, Doktor Thomas Mann. In der Diele hingen einige gerahmte Urkunden, die an den Nobelpreis und andere Preise erinnerten und auch an mehrere Ehrendoktorate. Man hat sie dort, das möchte ich nun doch annehmen, erst nach dem Tod von Thomas Mann aufgehängt. Wir wurden ins Wohnzimmer geführt, dessen breite Fenster einen wunderbaren Blick auf den Zürichsee boten.
    Nach wenigen Augenblicken kam Katia Mann. Sie trug ein dunkelgraues, beinahe bis zum Boden reichendes Kleid. Wie eine gestrenge Domina sah sie aus, wie eine imposante Stiftsvorsteherin. Hans Mayer hatte in der Hand einen großen Blumenstrauß, den ihm aber Frau Mann gar nicht abnehmen wollte. Er wurde von ihr ziemlich barsch angefahren: »Sie haben geschrieben, das Spätwerk meines Mannes bröckele ab.« Mayer, immer noch mit den Blumen in der Hand, war verlegen wie ein Schuljunge und stammelte hilflos: »Aber Gnädige Frau, ich bitte, ich bitte höflichst, bedenken zu wollen…« Katia Mann unterbrach ihn sofort: »Widersprechen Sie mir nicht, Herr Mayer, Sie haben geschrieben, Thomas Manns Spätstil sei ein Abbröckeln. Sie sollten wissen, daß über meinen Mann alljährlich in der ganzen Welt mehr Doktorarbeiten eingereicht und gedruckt werden als über diesen, über diesen Kafka.«
    Mayer konnte nichts antworten, denn die Tür ging auf, und es erschien Thomas Manns Tochter, jene, die der Vater, Wotans Wort über Brünhilde aufgreifend, ein »kühnes, herrliches Kind« genannt hatte: Es erschien Erika Mann. Die einstige Schauspielerin trug lange schwarze Hosen aus Seide oder doch wohl Brokat. Sie stützte sich auf silberne Krücken. Seit 1958 hatte sie sich einige Fuß- und Hüftbrüche zugezogen, so war ihr Auftritt etwas mühselig, doch zugleich stolz und energisch: Hier war eine selbstbewußte Frau fest entschlossen, ihre Behinderung nicht etwa zu verbergen oder gar zu ignorieren, nein, sie wollte sie eher akzentuieren und ihr auf diese Weise einen zusätzlichen Effekt abgewinnen. Vom ersten Augenblick an spürte man eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Daß die jetzt knapp über sechzig Jahre alte Erika Mann einst schön und herrisch gewesen war wie eine Amazonenkönigin – man sah es immer noch, man sah es sofort. Da standen sie mir jetzt gegenüber: zwei Repräsentantinnen dieser Familie, der in unserem Jahrhundert keine andere gleichkommt. Ich dachte mir: Was den Briten ihre Windsors, das sind den Deutschen, jedenfalls den Intellektuellen, die Manns.
    Wir zogen uns zusammen mit Erika Mann in ein benachbartes Zimmer zurück, wo die Mikrophone schon aufgestellt und die Bücher, auf die sie in der Sendung zu sprechen kommen wollte, vorbereitet waren. Es dauerte nicht lange, und man konnte sich überzeugen, daß Erika, die seit 1947 ihrem Vater als glänzende Lektorin seines Spätwerks geholfen hatte, im Gespräch über Literatur nach wie vor scharfsinnig und schlagfertig war, immer temperamentvoll und auch streitsüchtig. Mit unverkennbar gehässiger Genugtuung erzählte sie uns, sie habe gegen zwei deutsche Zeitungen, die sich über angebliche intime Beziehungen zwischen ihr und ihrem Bruder Klaus ausgelassen hatten, Prozesse angestrengt und gewonnen und beträchtliche Schmerzensgelder erhalten. Mitunter konnte man den Eindruck haben, daß aus Erika Mann, der Amazone, in ihren späteren Jahren eine Erinnye geworden war. Aber man begriff auch, daß es ihr, die gewiß leidenschaftlich zu heben und wohl noch häufiger zu hassen vermochte, daß es ihr nur selten gegeben war, wirklich zu lieben – und daß sie durchaus nicht beliebt war, auch nicht bei ihrer Familie.
    Im Herbst 1983 wurde in den Dritten Programmen des deutschen Fernsehens ein größeres, ein ernstes und solides Filmporträt über Klaus Mann ausgestrahlt. Nachdem ich diesen Film in der
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