Mein Leben
geradezu qualvoll. Verleger, Redakteure und Rundfunkleute, die Koeppens Talent erkannten, hörten nicht auf, ihn zu bitten und zu mahnen, ihn zu bedrängen und zu warnen, sie haben ihm in ihrer Verzweiflung gedroht oder geschmeichelt – und waren gelegentlich auch erfolgreich. Aber unter keinen Umständen ließ er sich überreden, ein Manuskript abzuliefern, das er für unfertig hielt.
Das alles war mir, als ich in der Redaktion der »Frankfurter Allgemeinen« zu arbeiten begann, natürlich bekannt. Doch abschrecken ließ ich mich nicht, im Gegenteil: Ich hielt es für eine meiner dringendsten Aufgaben, Koeppen als Mitarbeiter des Literaturteils zu gewinnen. Ich lockte ihn nicht nur mit hohen Honoraren, den damals höchsten in der »Frankfurter Allgemeinen«, sondern auch – und das hat wohl noch stärker gewirkt – mit Themen, die ihn mobilisierten.
Ich bat ihn um Aufsätze über Kleist, Kafka und Karl Kraus, über Thomas Mann und Robert Musil, über Döblin und Robert Walser und viele andere. Es könnten auch – sagte ich ihm, um ihn überhaupt zum Schreiben zu bringen – ganz kurze Artikel sein. Dies alles in einer Tageszeitung? Man mußte schon aktuelle Anlässe finden – und das war nicht so schwer: Neuausgaben und Bildbände, vor allem aber Jubiläen dienten als Vorwände. Nur selten hat Koeppen seine Manuskripte pünktlich geschickt. Schon am Anfang unserer Zusammenarbeit fand ich in einem Brief die etwas überraschende Mitteilung: »Mahnen Sie mich bitte, bedrängen Sie mich, aber nicht zu sehr.« Das tat ich häufig, meist mußte ich ihm die Manuskripte mit alarmierenden Telegrammen und Telefonanrufen abnötigen. Schließlich waren sie da, im letzten Augenblick telefonisch übermittelt, denn Fax-Apparate gab es noch nicht.
Aber Koeppen gehörte nicht zu jenen lästigen Mitarbeitern, die, kaum war ihr Text in der Redaktion angekommen, gleich anriefen, um zwei Worte zu streichen oder drei hinzuzufügen. Er hat kein Wort mehr geändert – und es wäre auch nicht nötig gewesen. Wenn ich dann las, was er über Grimmelshausen, über Shelley, Flaubert oder Hemingway geschrieben hatte, dann war ich zufrieden und in manchen Augenblicken beinahe glücklich. Allerdings fürchtete ich bald, daß Koeppen in dieser für ihn neuen Situation jenen Roman, den er im Laufe der Jahre schon mehrfach angekündigt hatte, nicht mehr schreiben werde. Von ihm sprach er jetzt immer seltener, häufig hingegen von einem kleineren Prosabuch mit dem Titel »Jugend«. Wann immer ich nach diesem Buch fragte, berief er sich auf die literarkritischen Arbeiten, die ihn so stark in Anspruch nähmen.
So blieb mir nichts anderes übrig, als die Zahl der laufenden Aufträge einzuschränken. Dies aber konnte ich nur verantworten, wenn ich ihm andere, möglichst regelmäßige Einkünfte verschaffte, die ihn von materiellen Sorgen befreiten. Ich wandte mich an vier Schriftsteller, deren Bücher damals besonders hohe Auflagen erreichten, und bat sie um Hilfe. Es waren Max Frisch, Heinrich Böll, Günter Grass und Siegfried Lenz. Keiner hat abgesagt, jeder hat einen ihm angemessen scheinenden (und in zwei Fällen auch recht hohen) Betrag auf ein Bankkonto mit dem Kennwort »Wegen Grastauben« überwiesen. Doch wäre es leichtsinnig gewesen, die zustande gekommene Summe Koeppen zu geben. Es war nicht seine Sache, mit Geld vernünftig umzugehen. Also erhielt er von diesem Konto allmonatlich eine Zuwendung; sie reichte nicht für seinen Unterhalt, bildete aber immerhin für eine Weile die Basis seines bürgerlichen Lebens. Er fragte mich, woher das Geld stamme, doch hatte ich den Eindruck, daß er es gar nicht wissen wollte. Jedenfalls hat er es nie erfahren.
Die diskrete Hilfsaktion war erfolgreich. Zwar ist der von vielen erwartete Roman nicht entstanden, aber 1976 konnte nach fünfzehnjähriger Pause endlich wieder ein Buch von Koeppen erscheinen: die poetische Selbstdarstellung »Jugend«. Es ist ein Fragment aus Fragmenten. Daß es gleichwohl ein Ganzes ist, verdankt dieses Buch seinem Stil – und das bezieht sich ebenso auf seine Sprache wie auf seine Stimmung. Ich liebe dieses Buch wie sonst nur sein Hauptwerk, den Roman »Tauben im Gras«.
Koeppen stand mir nahe – und das hat Gründe, die über die außerordentliche, die für mich unzweifelhafte Qualität seiner Prosa noch hinausgehen. Auf Fragen von Interviewern antwortete er stets: »Ich habe keine Heimat.« In der Tat, er kannte keine Heimat, überall war er fremd. Aber ganz
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