Mein Leben
freilich machte es Spaß, schlecht über einzelne Werke von Thomas Mann zu reden. Vom »Tonio Kroger« hielt er sehr wenig, in dem Gespräch mit Lisaweta stimme nichts, es sei »Unsinn«. Welche von den beiden schlechtesten Erzählungen Thomas Manns – »Tomo Kroger« und »Unordnung und frühes Leid« – denn die schlechtere sei, fragte er mich höhnisch. Ich nahm das alles nicht ernst. »Wenn man so hört«, sagte ich ihm, »wie Sie über die Bücher Thomas Manns reden, muß man zum Ergebnis kommen, daß Sie ihn für einen besonders schwachen, ja talentlosen Autor halten.« Golo Mann widersprach gleich: Das könne man nicht sagen, denn der Joseph-Roman sei, wenn es um Format und Qualität gehe, so etwas wie die »Ilias«, wie die »Odyssee«. Da sind wir, dachte ich mir, wieder zu Hause – und konnte beruhigt schlafen.
Gern erzählte Golo Mann Anekdoten über den Vater, meist solche, die für ihn nicht schmeichelhaft waren. Auch ich erzählte ihm eine Anekdote, die er, wie sich gleich herausstellte, nicht kannte. Im Herbst 1924 war der »Zauberberg« erschienen, wenige Wochen später gab es schon allerlei Kummer – unter anderem mit Gerhart Hauptmann, der sich, im Roman als Mynheer Peeperkorn parodiert und karikiert, beleidigt und verärgert zeigte.
In dieser Zeit hielt sich Thomas Mann kurz in Zürich auf, wo er einen eleganten Herrenartikel-Laden in der Bahnhofstraße aufsuchte, zu dessen Kunden er längst gehörte. Es war am frühen Morgen. Er wurde von dem Inhaber mit gehöriger Devotion begrüßt. Doch schien dieser etwas unruhig, bat rasch um Entschuldigung und ging die Treppe hinauf in die erste Etage des Ladens. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und teilte Thomas Mann mit, in der oberen Etage sei jetzt ein anderer Kunde, der Herr Doktor Hauptmann, Gerhart Hauptmann. Ob der Herr Doktor Mann den Kollegen sehen möchte? Thomas Mann antwortete sofort: »Nein, es ist noch etwas zu früh.« Der Inhaber des Ladens verneigte sich höflich und sagte: »Der Herr Doktor Hauptmann ist der gleichen Ansicht.«
Golo Mann war entzückt: »In der Tat«, sagte er, »eine ausgezeichnete Anekdote. Nur: Sie ist von Anfang bis Ende erfunden, frei erfunden. Wenn das tatsächlich passiert wäre, dann hätte uns T. M. mit dieser Geschichte zahllose Male gequält.« Hier irrte Golo Mann. Die Beinahe-Begegnung in einem Züricher Herrenartikel-Laden hat sehr wohl stattgefunden, allerdings erst 1937.
In einem unserer ausgedehnten Telefongespräche – es war im Dezember 1975 – unterhielten wir uns über die Sexualität Thomas Manns. Homosexuelle Gefühle und Gedanken, sagte Golo, seien Thomas Mann, wie bekannt, keineswegs fremd gewesen. Er sei aber nie ein praktizierender Homosexueller gewesen. Die Vorstellung, er habe Kontakte mit Strichjungen gehabt, sei absurd. Seine homosexuellen Aktivitäten seien, so Golo, »niemals unter die Gürtellinie gegangen«. Letztlich sei seine Homosexualität in pubertären Grenzen geblieben. Man könne sagen, meinte Golo, Thomas Manns Sexualleben habe dem eines preußischen Generals geähnelt. Frauen gegenüber sei er ängstlich und zurückhaltend gewesen. Eben deshalb habe er gelegentlich Dienste von Prostituierten in Anspruch genommen.
Befragt nach angeblich vorhandenen intimen Briefen Thomas Manns an Klaus Mann, deren Veröffentlichung von der Familie – Gerüchten zufolge – verhindert worden sei, erklärte Golo Mann, alle derartige Vermutungen zeugten von der Unkenntnis der tatsächlichen Vater-Sohn-Beziehung. Solche Briefe konnte es nicht geben, weil Intimität zwischen Thomas und Klaus Mann nie existiert habe. Der Vater habe die Homosexualität seines Sohnes Klaus »verabscheut«, Aussprachen über dieses Thema seien zwischen ihnen niemals erfolgt. In seiner Familie, belehrte mich Golo, habe es zwei Arten von Homosexualität gegeben – eine Mannsche und eine Pringsheimsche. Die Mannsche sei scheu und voll von Hemmungen und Komplexen, die Pringsheimsche hingegen fröhlich und lebensbejahend. Klaus sei der Pringsheimschen Tradition verbunden gewesen, er selber jedoch weit eher der dunklen und komplizierten Mannschen Tradition.
Einmal gingen wir in der Nähe von Kilchberg spazieren. Da ich wußte, daß er zahllose Gedichte auswendig konnte, bat ich ihn, einige vorzutragen. Er sprach zuerst lateinische Verse (von Horaz und Ovid), später deutsche: Heine, Eichendorff und immer wieder Goethe. Ich fragte ihn, was ihm Goethe bedeute. Er sagte etwa, Goethe sei für ihn so notwendig
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