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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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böses, beinahe bösartiges Porträt des damals sechs Jahre alten Michael. Obwohl ich ihn nur flüchtig kannte, hat sich seine Person meinem Gedächtnis fest eingeprägt – vielleicht deshalb, weil sein Unglück und dessen Ursachen so groß und so offenkundig waren, gleichsam mit Händen zu greifen.
    An dem schweren, schrecklichen Schicksal, ein Sohn Thomas Manns zu sein, hat auch Golo Mann gelitten. Aber er war der einzige von den drei Söhnen, dem es gelang, das Wort des Vaters zu beherzigen, man solle dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken – man habe also der Verlockung zu widerstehen, die Stunde des Todes selber zu bestimmen. Golo Mann starb 1994 im Alter von 85 Jahren. Dank seiner »Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts« und dank seiner wahrhaft monumentalen Wallenstein-Biographie wurde er zum erfolgreichsten deutschen Historiker des Jahrhunderts – von Kollegen anerkannt und geschätzt und von unzähligen Lesern bewundert, auch von solchen, die sonst um historiographische Werke einen großen Bogen machen. Dennoch war er ein schwermütiger Einzelgänger, der sich lange Jahre hindurch für verfemt und ausgestoßen hielt. In seinen späten Jahren war er berühmt und wohlhabend, aber auf die Frage »Was möchten Sie sein?« im Fragebogen des F.A.Z.-Magazins antwortete er kurz und klar: »Jemand, der glücklicher ist als ich.«
    Ich habe Golo Mann in Hamburg um 1970 kennengelernt. Doch zu näheren und kontinuierlichen Kontakten kam es erst 1974, als ich ihn mit Bittbriefen zu bedrängen begann – was ich bis Ende der achtziger Jahre unermüdlich und hartnäckig fortsetzte. An der möglichst intensiven Zusammenarbeit mit ihm lag mir ähnlich wie an jener mit Wolfgang Koeppen, wenn auch aus anderen Gründen: Golo Mann war in mancherlei Hinsicht der ideale Autor des Literaturteils der »Frankfurter Allgemeinen«. Weil er über ein außergewöhnliches Wissen verfügte, weil er ein wahrhaft gebildeter Mann war? Nicht nur deswegen. Ich hielt es für eine meiner wichtigsten Aufgaben, einen Literaturteil zu redigieren, der nicht bloß von Kollegen und Fachleuten gelesen würde, sondern von möglichst allen, die sich für Literatur interessieren. Im Unterschied zu manch einem anderen Mitarbeiter brauchte ich Golo Mann niemals daran zu erinnern, an welche Adressaten seine Beiträge gerichtet sein sollten. Denn sein Vorbild war Augustinus, von dem er sagte, noch das Schwierigste mache er dem Leser leicht.
    Alle seine Schriften verfaßte er in einem wohltuend natürlichen Parlando, mit dem er ein Maximum an Klarheit, Deutlichkeit und Anschaulichkeit erreichte – in einem Parlando, das mit dem Stil seines Vaters nichts gemein zu haben scheint. Doch in Wirklichkeit war es gewiß anders: Golo Manns Sprache entwickelte sich sehr wohl unter dem Einfluß der überaus kunstvollen Diktion Thomas Manns, nur freilich im bewußten oder unbewußten Widerstand gegen diese Diktion – wie er sich auch schon früh für ein Leben gegen seinen Vater entschieden hatte. In einem Telefongespräch, in dem von seinem Verhältnis zum Vater die Rede war, sagte er mir: »Ich habe seinen Tod gewünscht.« Ich erschrak und fragte ihn ziemlich erregt: »Wissen Sie denn, was Sie da eben gesagt haben?« Darauf Golo: »Ja, so ist es. Ich habe seinen Tod gewünscht. Es war unvermeidlich.« Seine Bücher habe er, abgesehen von der Monographie über Friedrich von Gentz, allesamt erst nach dem Tod des Vaters schreiben können – damals war er immerhin schon 46 Jahre alt.
    Wir trafen uns in Hamburg und Düsseldorf, Frankfurt und Zürich, aber nicht sehr häufig. Hingegen haben wir immer wieder korrespondiert und telefoniert. Zwei Themen standen im Mittelpunkt: die Literatur und die Familie Mann. Golo lobte meine Artikel und Bücher, brachte hier und da Einwände vor, hatte aber, sobald es in meinen Kritiken um seine Familienangehörigen ging, einen fundamentalen Einwand, den er bei verschiedenen Gelegenheiten vorbrachte. So schrieb er mir zu einem Essay über Klaus Mann, alle meine Urteile seien richtig, das Ganze aber sei es nicht: Es fehle »die Sympathie«. Auch wo er sich zu meinen Aufsätzen über die einzelnen Bände der »Tagebücher« Thomas Manns äußerte, wiederholte Golo die generelle Beanstandung: Zu wenig Sympathie, zu wenig Liebe.
    Wenn Kritiker Bücher seines Vaters besprochen hatten, war er verärgert und überlegte sich, ob er einen Protestbrief schreiben solle, was er dann meist doch unterließ. Ihm selber
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