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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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nichts zu tun haben. Er attackierte und beschimpfte die Schweiz munter und kräftig. Ihn verbinde mit diesem Staat, erklärte er mir, bloß noch der Reisepaß. Ich glaubte ihm kein Wort. Warum er denn in Zürich lebe? Er könne doch wohnen, wo er wolle, er habe es ja auch, wie jedermann wisse, in Berlin versucht, in New York und Rom. Aber Zentrum seiner Existenz sei doch Zürich geblieben. Er sei eben, sagte ich lachend, alles zugleich und auf einmal: ein urbaner europäischer Autor, ein schweizerischer Heimatdichter und ein bodenständiger Kosmopolit. Frisch protestierte nicht.
    Was immer ich sagte, er war und blieb in bester Laune. Den wahren Grund erfuhr ich bald: Er arbeitete an einer neuen Erzählung und war sicher, einen vorzüglichen Stoff gefunden zu haben. Nicht nur Höflichkeit ließ mich eine kaum zu zügelnde Neugier an den Tag legen: Ich wollte wirklich genauer informiert werden und brauchte nicht lange zu bitten. Frisch entkorkte eine Flasche Champagner und legte schwungvoll los.
    Unlängst habe in Zürich ein ungewöhnlicher Strafprozeß stattgefunden. Er habe sich über einige Wochen hingezogen, und er, Frisch, sei tagein, tagaus dabeigewesen. Was ich über den Verlauf und die Einzelheiten dieser Gerichtsverhandlung, über die Angeklagten, die Zeugen und die Geschworenen zu hören bekam – es war großartig. Eine spannendere und interessantere Geschichte von Frisch kannte ich nicht: Hier hatte ein großer, alter Erzähler den ihm gemäßen, den für ihn idealen Stoff gefunden. Dessen war ich ganz sicher. Ich gratulierte Frisch und dachte mir: Diese Stunde – denn sein Bericht hatte mindestens eine Stunde in Anspruch genommen – werde ich sobald nicht vergessen.
    Ungeduldig wartete ich auf das Buch. Im Frühjahr 1982 kam es unter dem Titel »Blaubart« heraus. Nicht enttäuscht hat es mich, vielmehr hat es mich nachgerade entsetzt. Allem Anschein nach hatte sich Frischs Verhältnis zu seinem Stoff verändert. Glaubte er nicht mehr an die Suggestivkraft der Personen und Motive, mit denen er sich im Züricher Gerichtssaal bekannt gemacht hatte? Oder war etwa sein Selbstvertrauen erschüttert? Wie auch immer: Er hatte einer absonderlichen und aufregenden Geschichte, die für sich selbst sprach, durch allerlei Umgestaltungen und Verfremdungen ihre Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit genommen. Jetzt indes war ich nicht der Ansicht (wie nach der Lektüre der »Holozän«-Erzählung), das könnte an mir liegen. Deshalb wollte ich auch nicht kneifen: Ich schrieb offen, was ich von dem neuen Buch hielt, und bemühte mich, die Bitterkeit mit liebevollen Wendungen zu mildern, die Pille des Tadels also zu versüßen – was in der Regel zwecklos ist. Wieder einmal wurde ich an das auch für die Kritik geltende Wort aus der »Iphigenie« erinnert: »Man spricht vergebens viel, um zu versagen; / Der andere hört von allem nur das Nein.«
    In den folgenden Jahren korrespondierten wir gelegentlich miteinander, aber ich sah Frisch erst im April 1986 wieder. Er war in Frankfurt, um sich nach der Vorführung eines sehr langen Films über ihn, »Gespräche im Alter« betitelt, den Fragen der Journalisten zu stellen. Viele hatte man eingeladen, nur wenige waren gekommen. Auch ich nahm an dieser Veranstaltung nicht teil. Ich arbeitete an einer Kritik des Romans »Die Rättin« von Günter Grass und wollte sie für die nächste Literaturseite der »Frankfurter Allgemeinen« fertigmachen.
    Aber da kam noch ein anderer Umstand hinzu: Solche Darbietungen sind beinahe immer unaufrichtig und peinlich. Heiner Müller weigerte sich standhaft, zu Premierenfeiern zu gehen. Seine Begründung: »Ich will nicht lügen.« Allerdings war Müller bei der Feier nach der Premiere seiner »Tristan«-Inszenierung 1993 in Bayreuth sehr wohl zugegen. Jene, die es ablehnen, ihren nach Lob lechzenden Kollegen mit freundlichen Lügen zu dienen, haben, wenn es um sie selber geht, oft keine Hemmungen, die Lügen der Schmeichler für bare Münze zu nehmen.
    Am Abend nach der Vorführung des Films »Gespräche im Alter« traf ich Max Frisch im Haus des Verlegers Siegfried Unseld. Die Begrüßung fiel diesmal ganz anders aus als einst im hannoveranischen Luisenhof: kühl, ja frostig. Hatte ihn meine Abwesenheit bei der Pressevorführung verärgert? Vielleicht, doch bald kam er auf den »Blaubart« zu sprechen und auf meine Kritik. Ich sah Schlimmes kommen: In der Tat war Frisch sofort gereizt, nannte mich »präpotent«, wurde rabiat und auch

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