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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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wie die Luft, die wir zum Atmen brauchen, wie das Licht, ohne das wir nicht leben können. Dann hörte ich mehrfach die Vokabel »Dank«.
    Ohne Übergang fragte ich nun nach seinem Verhältnis zu Thomas Mann. Golo wich nicht aus, aber er antwortete einsilbig. Jetzt hörte ich ganz andere Vokabeln: Angst, Abscheu, Bitterkeit, wohl auch Haß. Als wir den Kilchberger Friedhof passierten, schlug er vor, das Grab von Conrad Ferdinand Meyer aufzusuchen. Daß auf demselben Friedhof Thomas und Katia Mann beerdigt sind, blieb unerwähnt. Als Golo Mann 1994 starb, wurde auch er auf dem Kilchberger Friedhof begraben, doch auf seinen ausdrücklichen Wunsch möglichst weit vom Grab seiner Eltern entfernt. Tatsächlich befindet sich sein Grab unmittelbar an der Friedhofsmauer.
    Auf dem Rückweg nach Zürich dachte ich mir, daß ich in meinem ganzen Leben noch nie einem Menschen begegnet sei, der soviel an seinem Vater gelitten und der soviel der Dichtung zu verdanken habe wie Golo Mann, der unglückliche Sohn eines Genies und der glückliche Bewunderer, der noble Enthusiast der Literatur.

 
Max Frisch oder Das Europäische in Person
     
    An meine erste Begegnung mit Max Frisch kann ich mich gut erinnern. Es war im Oktober 1964 in Kastens Hotel »Luisenhof« in Hannover. Im »Literarischen Kaffeehaus« war er als Gast an der Reihe. Ich freute mich sehr, denn ich hatte eine Schwäche – wenn auch nicht für seine Theaterstücke (mit Ausnahme des Lehrstücks ohne Lehre »Biedermann und die Brandstifter«), so doch für seine Romane und Tagebücher.
    Kaum im »Luisenhof« angekommen, ging ich gleich nach unten, gewiß in der Hoffnung, einen der beiden anderen Teilnehmer dort zu treffen. Von einer Galerie in der ersten Etage sah ich einen Herrn, der in der Hotelhalle gemächlich und wohl etwas gelangweilt hin und her ging. Es war Max Frisch. Ich blieb auf der Galerie, und eine Weile beobachtete ich ihn von dort: Dieser joviale, beinahe würdig ausschauende Herr ist also, dachte ich mir, der Mann, der den »Stiller« geschrieben hat und den »Homo Faber« und dem wir dieses herrliche »Tagebuch« verdanken. Weltliteratur in Person? Nein, ein anderes und nur auf den ersten Blick bescheideneres Wort fiel mir ein: europäische Literatur in Person.
    Ich hatte keine Bedenken, auf ihn zuzugehen und mich ihm höflich vorzustellen. Denn ich war sicher, daß hier nichts schiefgehen könne. In der Tat: Kaum hatte Frisch meinen Namen gehört, da hellte sich sein Gesicht auf. Fest und herzlich drückte er mir die Hand, vielleicht, wer weiß, wollte mich der berühmte Mann gar umarmen. Immerhin sagte er mir nicht ohne Feierlichkeit und beinahe gerührt: »Ich danke Ihnen.« Da ich nur mit Freundlichem zu rechnen hatte, blickte ich ihn stumm und erwartungsvoll an. Er fügte rasch hinzu: »Ich danke Ihnen sehr für Ihr Plädoyer.« Nun waren wir beide gerührt. Und einer von uns (ich glaube, er war es) fand das erlösende, wenn auch nicht originelle Wort: »Gehen wir in die Bar.«
    Der Hintergrund des Ganzen ist unkompliziert. Wenige Wochen vor diesem Treffen war Frischs beinahe fünfhundert Seiten umfassender Roman »Mein Name sei Gantenbein« erschienen. Er hatte an dem Buch jahrelang gearbeitet und war nun verständlicherweise an nichts anderem auf dieser Erde mehr interessiert als an dem Echo der Kritik. Das ließ nicht auf sich warten.
    »Die Zeit« brachte über den »Gantenbein« einen ausführlichen Essay meines damaligen Kombattanten Hans Mayer. Der bedeutende Gelehrte hatte viel zum Thema zu sagen, Wichtiges und Erhellendes. Doch auf die von ihm selber gestellte Frage, ob das nun ein guter oder ein schlechter Roman sei, wollte er partout nicht antworten. Selbst der Klassenletzte hatte jetzt begriffen, was hier gespielt wurde: So viel dem Rezensenten zu »Gantenbein« auch eingefallen war, so wenig konnte er dem Roman abgewinnen, er lehnte ihn nachgerade ab.
    Frisch war nicht nur enttäuscht, er fühlte sich getroffen und verletzt. Denn in den sechziger Jahren waren Einfluß und Autorität der »Zeit« im Bereich der Literaturkritik besonders groß. Aber schon nach zwei Wochen konnte man dort eine zweite, ebenfalls sehr umfangreiche Kritik des »Gantenbein« lesen. Sie stammte von mir. Ich sprach mich für den Roman aus. In diesem »Plädoyer für Max Frisch« polemisierte ich weidlich gegen Hans Mayer.
    So war der Autor des »Gantenbein« doppelt zufrieden: Ich hatte seinen Roman gerühmt und Mayers Gegenargumente allesamt in Frage

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