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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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mir bis heute nicht abgewöhnt. So war ich auch, meinen Vater begleitend, wenige Tage zuvor eine Stunde oder zwei im Zimmer der Familie Langnas gewesen. Dort hatten sich an diesem Abend einige Personen versammelt – um sich gegenseitig zu bestätigen, daß die Deutschen ernste Sorgen hätten, daß sie mit den Juden im Generalgouvernement vielleicht doch nicht so grausam umsprängen, daß der Triumph der Alliierten sicher sei und daß das Ganze nicht mehr lange dauern könne.
    Damals also habe ich jene Neunzehnjährige zum ersten Mal gesehen. Da ich mich aber an der allgemeinen Unterhaltung beteiligen wollte, konnte ich ihr nur wenig Aufmerksamkeit zuwenden. Doch das genügte, um mich von zweierlei zu überzeugen: Sie konnte Deutsch, und die Literatur war ihr offenbar nicht gleichgültig. Das weckte mein Interesse, das sich vorerst noch in Grenzen hielt, das machte sie mir, neben anderen Umständen, sympathisch. Wie denn – nur sympathisch? Ja, in der Tat. Das hatte einen einfachen Grund: Ich war gerade von einer anderen Geschichte stark in Anspruch genommen. Einer erotischen, einer sexuellen? Gewiß. Aber ich erinnere mich an diese Geschichte mit gemischten Gefühlen. Sie ist banal und ein wenig peinlich, und überdies läßt sich schwer darüber reden – vielleicht deshalb, weil sie immer wieder passiert ist und schon unzählige Male erzählt wurde, besonders schön von Österreichern: von Schnitzler etwa, Hofmannsthal und Stefan Zweig bis zu Joseph Roth. Aber vergessen kann ich dieses Erlebnis auch nicht.
    Reife Dame verführt einen ehemaligen Schulfreund ihres Sohnes, einen Neunzehnjährigen, der sich aber bald von ihr abwendet – natürlich um einer Jüngeren willen. So ließe es sich zusammenfassen. Die Dame stammte aus Sankt Petersburg, war Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin geflüchtet und im Sommer 1939 nach Warschau geraten. Sie war, nun knapp über vierzig, eine originelle und effektvolle Person, die man für eine Bühnenfigur mitten im trüben Alltag halten konnte. Ihre Garderobe, ihre temperamentvolle Gestikulation, ihr stets etwas pathetischer Tonfall – alles war theatralisch. Sie spielte unentwegt eine Rolle – und sie spielte sie, obwohl sie bisweilen outrierte, gar nicht schlecht. Sie hatte das dringende, das kaum verborgene Bedürfnis, möglichst allen Menschen ihrer Umgebung zu imponieren. Jetzt wollte sie vor allem mich beeindrucken. Und obwohl ich manches durchschaute, gelang ihr dies auf Anhieb.
    Theatralisch klang auch ihr Name: Tatjana. Genauer: Sie hat sich dieses schönen, in Deutschland durch die russische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts populär gewordenen Namens ohne Reue bemächtigt. Ihr besonders hellblondes Haar war vermutlich kräftig gebleicht, ihre hellblauen Augen fielen durch ihre Größe auf. Ich habe nie schönere gesehen – oder sind sie nur in meiner Erinnerung so schön und groß geworden? Gern sprach sie von dem Luxus, in dem sie einst in Petersburg aufgewachsen war, und von den bedeutenden Männern, die sich in Berlin um ihre Gunst bemüht hatten. Beides war wohl stark übertrieben.
    Ihr Bruder sei in der Sowjetunion, erzählte sie mir hinter vorgehaltener Hand, eine Person höchsten Ranges, er sei Mitglied des Zentralkomitees oder Minister oder beides zugleich, doch riskiere sie ihr Leben, wollte sie mir seinen jetzigen Namen verraten. Ich war ziemlich sicher, daß sie diesen geheimnisvollen Bruder erfunden hatte. Was sie aber nicht erfunden hatte, das war ihr außerordentliches Charisma. Authentisch überdies war ihre bewundernswerte Gabe, die Menschen ihrer Umgebung, keineswegs nur mich, zumindest zeitweise zu faszinieren.
    Diese Tatjana besuchte ich nun beinahe täglich, stets von fünf bis sieben Uhr nachmittags. Für meine regelmäßigen Besuche hatte sie sich einen Vorwand ausgedacht: Sie beherrschte vier Sprachen, die fünfte aber, Englisch, nur dürftig. Ich sollte mit ihr englische Prosa lesen. Ich schlug Joseph Conrad vor und Galsworthy. Ihr war alles recht. Denn darauf kam es ihr überhaupt nicht an: In Sachen Literatur überließ sie die Entscheidung mir. Aber eben nur in Sachen Literatur. Sonst behielt sie, forsch und energisch, die Initiative. Ich hatte nichts dagegen.
    Jeder Nachmittag nahm ungefähr den gleichen Verlauf: Es gab zunächst Kaffee und vorzügliche Kuchen und auch noch andere Leckerbissen, die damals in Warschau sehr teuer, doch erhältlich waren. Dann lasen wir englische Prosa, doch so richtig konzentrieren konnten wir uns

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