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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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übliche Redewendung: »Das Leben geht weiter.«
    Dann aber tat ich etwas Ungehöriges, etwas, was mich selber überraschte, was ich in dieser Situation noch vor zehn Sekunden für ganz unmöglich gehalten hätte: Ich faßte sie plötzlich an, ich griff zitternd nach ihrer Brust. Sie zuckte zusammen, aber sie sträubte sich nicht. Sie erstarrte, ihr Blick schien dankbar. Ich wollte sie küssen, ich unterließ es.
    Am nächsten Tag wurde Tosias Vater beerdigt. Noch wurden Juden beerdigt, noch – denn bald gab es für sie, wie es in Celans »Todesfuge« heißt, nur »ein Grab in den Lüften«. Da man sich an die Selbstmorde von Juden vorerst nicht gewöhnt hatte, waren viele Menschen zum Friedhof gekommen, zumal der stille Herr Langnas in seiner Heimatstadt nicht nur zu den angesehenen, sondern auch zu den beliebten Kaufleuten gehört hatte.
    Ich begleitete und stützte Tosia. Am offenen Grab stand ich neben ihr. Ein Freund ihres Vaters fragte etwas verwundert, wer denn eigentlich der junge Mann sei, der sich offensichtlich der Tochter des Toten annahm. Vielleicht hielt er es für unpassend oder etwas ungehörig. Aber wir beide, sie und ich, wir machten uns keine Gedanken darüber. Wir empfanden es schon als selbstverständlich, daß wir an diesem düsteren, diesem regnerischen Tag im Januar 1940 zusammen waren. Und wir blieben zusammen.

 
Erst »Seuchensperrgebiet«, dann Getto
     
    Die Endlösung war noch nicht beschlossen, ja man kannte dieses Wort noch nicht. Aber zu den Willkürakten, die den Juden den Alltag zur Hölle machten, kamen sogleich systematische Aktionen der Behörden hinzu. Deutsche Bürokraten waren am Werk, fleißige Schreibtischtäter. Sie verfolgten mit anderen Mitteln die gleichen Ziele wie jene, die die Juden, wo immer sie sie fanden, überfielen, ausraubten und peinigten. Unentwegt gab es im Generalgouvernement Polen neue Gesetze und Verfügungen, neue Anordnungen und Verordnungen, Erlasse und Weisungen. Wozu alle diese Maßnahmen in Wirklichkeit dienen sollten, haben wir damals weder gewußt noch geahnt, und wir hätten es, hätte uns jemand hierüber informiert, mit Sicherheit nicht geglaubt. Denn nichts anderes wurde mit diesen Maßnahmen vorbereitet als die Vernichtung aller Juden, ihre »Ausrottung«.
    Schon wenige Wochen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Warschau verfügte die SS, daß die Juden ab sofort nur in einem bestimmten Teil der Stadt wohnen und sich aufhalten durften. Ein Getto also wurde angeordnet. Verheimlichen konnte man diese Rückkehr zum Mittelalter nicht, aber doch offiziell beschönigen oder tarnen. Daher wurde das Wort »Getto« sorgfältig vermieden – ebenso in den plakatierten Bekanntmachungen wie in den Zeitungen, es tauchte auch niemals im Briefwechsel mit den verschiedenen deutschen Dienststellen auf. Was errichtet werden sollte, hieß stets »der jüdische Wohnbezirk«.
    Die Juden hatten innerhalb von drei Tagen in die nördlichen, meist häßlichen und vernachlässigten Viertel Warschaus umzuziehen. Gleichzeitig sollten die dort lebenden Nichtjuden diese Viertel verlassen und ebenfalls mit Sack und Pack umziehen. Unter den Betroffenen, Juden wie Nichtjuden, brach Panik aus, die Stadt geriet in Aufruhr. Offenbar war sich die SS der Folgen, die sich aus ihrer Anordnung ergaben, überhaupt nicht bewußt.
    In den für die Juden vorgesehenen Bezirken befanden sich Fabriken und Betriebe, die Nichtjuden gehörten. Was sollte damit geschehen? Daß eine moderne Großstadt ein kompliziertes Gebilde ist, aus dem sich nicht ohne weiteres ganze Stadtteile herauslösen und isolieren lassen – das war ja beabsichtigt –, davon hatten jene, von denen die Geschicke der größten jüdischen Gemeinde Europas abhingen, keine Ahnung. Was sie wollten, ließ sich auf die Schnelle nicht machen: Die SS-Führer sahen sich genötigt, die Getto-Anordnung wieder zurückzuziehen.
    Die Okkupationsbehörden hatten sich in aller Öffentlichkeit blamiert. Doch konnten die Juden nicht aufatmen: Es war klar, daß die deutschen Instanzen nicht daran dachten, auf ihren Plan zu verzichten. Die Sache war nur aufgeschoben – und es war ziemlich sicher, daß sie sich für ihre Fehlentscheidung grausam rächen würden, an den Juden, selbstverständlich.
    Wie konnte es zu einer offensichtlich improvisierten und die deutschen Machthaber kompromittierenden Anordnung kommen? Die Antwort ist sehr einfach: Die in Warschau amtierenden und mit großen Vollmachten ausgestatteten SS-Führer waren

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