Mein Leben
seiner Waffe Gebrauch machen können: Was immer er uns angetan hätte, er war ja niemandem Rechenschaft schuldig.
Kaum eine Minute später war alles vorbei. Die drei Soldaten hatten nicht ohne Eile unsere Wohnung verlassen – mit der ersehnten Beute, versteht sich. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es Anfänger waren, die uns überfallen hatten: Ob sie eine solche Szene schon im Kino gesehen hatten und sie bei uns einfach nachspielten? Jedenfalls war das Gold weg und der Schreck ließ nach – aber nicht nachlassen wollte der Glaube meiner Mutter an die deutsche Ordnung und die deutsche Gerechtigkeit.
In dieser Hinsicht ähnelte sie manchen Juden in Polen, älteren vor allem und assimilierten: Sie glaubten tatsächlich, die deutsche Besatzung würde auch diesmal nicht viel anders sein als jene im Ersten Weltkrieg. Letztlich würden die Okkupanten die Juden in Ruhe lassen, vielleicht sogar mehr oder weniger korrekt behandeln. Und die Razzien und Überfälle gleich in den ersten Tagen und Wochen nach der Eroberung Warschaus? Das seien brutale Willkürakte, die ohne Wissen der Vorgesetzten erfolgten und die sich sehr bald nicht mehr wiederholen würden.
Am nächsten Morgen machte sich meine Mutter auf den Weg, ich begleitete sie. Es dauerte nicht lange, und wir fanden die deutsche Kommandantur. Hier wollte sie sich beschweren und die Rückgabe des ihrem Sohn entwendeten Goldes und ihres Eheringes erbitten. Sie war wirklich überzeugt, daß ihr das gelänge. Aber wir konnten nicht einmal das Gebäude der Kommandantur betreten: Ein leutseliger Wachtposten empfahl uns, schleunigst das Weite zu suchen.
Diese Soldaten, die immer wieder Wohnungen von Juden überfielen, wollten sich bereichern. Doch sollte man ein ganz anderes Motiv nicht unterschätzen: Sie taten etwas, was ihnen augenscheinlich Freude bereitete. Zu dieser Vergnügungssucht kam oft jene Neigung zum Sadismus hinzu, die sie in der Heimat immer verbergen mußten und die sie im feindlichen Polen, davon waren unzählige Deutsche in Uniform überzeugt, nicht zu unterdrücken brauchten: Hier hatten sie auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen, hier unterlagen sie keiner Aufsicht und keiner Kontrolle. Anders als am Rhein oder Main konnten sie endlich tun, wovon sie immer schon geträumt hatten: die Sau rauslassen.
Ende November 1939 erschienen in unserer Wohnung wieder einmal deutsche Soldaten, jetzt aber zwischen zehn und elf Uhr vormittags. Sie wollten – anders als ihre schneidigen Vorgänger – weder Geld noch Gold, vielmehr benötigten sie Arbeitskräfte, also vor allem junge Männer. Sie nahmen uns gleich mit: meinen Bruder, der die zahnärztliche Behandlung eines vor Schreck erstarrten Patienten unterbrechen mußte, und mich. Auf der Straße stand schon eine Kolonne von dreißig oder vierzig Juden. Da wir etwas besser angezogen waren als die anderen, wurden wir mit spöttischen Zurufen an die Spitze dieses Zuges kommandiert.
Wir mußten nun losmarschieren, ohne zu wissen, wohin und wozu. Unsere Bewacher und Antreiber, meist meine Generationsgenossen, also zwanzig, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, machten sich einen Spaß daraus, uns zu schikanieren und bald auch zu quälen. Sie befahlen uns zu tun, was ihnen gerade einfiel: schnell zu rennen, plötzlich stehenzubleiben und dann wieder ein Stück zurückzurennen. Wenn auf unserem Weg eine große Pfütze war (es gab sie im zerstörten Warschau überall) und wir sie zu umgehen versuchten, wurden wir sofort gezwungen, durch diese Pfütze mehrfach hin- und zurückzulaufen. Unsere Kleidung sah bald erbärmlich aus – und eben darauf kam es diesen Soldaten an. Dann sollten wir singen. Wir sangen ein populäres polnisches Marschlied, aber unsere Bewacher verlangten ein jiddisches Lied.
Schließlich befahlen sie uns – und dieser Einfall schien ihnen sehr zu gefallen –, im Chor zu brüllen: »Wir sind jüdische Schweine. Wir sind dreckige Juden. Wir sind Untermenschen« – und dergleichen mehr. Ein etwas älterer Jude stellte sich taub. Jedenfalls hat er nicht mitgebrüllt – vielleicht weil er zu schwach war oder weil er den Mut hatte, gegen diese Demütigung zu protestieren. Der Soldat schrie »Lauf!«, der Alte lief einige Schritte, der Soldat schoß in seine Richtung, der Jude fiel hin und blieb auf dem Straßendamm liegen. Verletzt? Getötet? Oder nur vor Schreck hingefallen? Ich weiß es nicht, niemand von uns durfte sich um ihn kümmern.
Und ich? Hatte mich dieser
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