Mein Leben
deutsche Barbar in der Uniform der Wehrmacht beleidigt oder erniedrigt oder gedemütigt? Ich glaubte damals, er könne mich gar nicht beleidigen, er könne mich nur verprügeln oder verletzen oder auch töten. Ich meinte, es sei richtiger, diesen grausamen Zirkus schweigend, brüllend und singend mitzumachen, als den Tod zu riskieren. Ungewöhnlich war das alles nicht. Es spielte sich beinahe täglich ab, in beinahe jeder polnischen Stadt. Ungewöhnlich vielmehr war, was ich an jenem Vormittag, unmittelbar nach diesem Marsch zur Arbeit, noch erlebt habe.
Nach zwanzig oder dreißig Minuten waren wir am Ziel angelangt, einem kurz vor dem Krieg erbauten, großzügigen Studentenheim am Narutowicz-Platz. Das riesige Gebäude wurde jetzt als deutsche Kaserne benutzt. Unsere Aufgabe war es, das ganze Untergeschoß, in dem sich zu unserem Leidwesen auch ein Schwimmbad befand, gründlich zu reinigen. Unsere Bewacher teilten uns mit, sie würden uns allesamt, sollten wir nicht gut und schnell genug arbeiten, mit einem kräftigen Tritt in das Schwimmbad befördern. Ich hielt das für durchaus möglich.
Aus irgendeinem Grund wollte einer dieser lustigen, dieser brutalen Soldaten etwas von mir wissen. Er war, das hörte ich sofort, aus Berlin. Ein Gespräch mit ihm hätte vielleicht nützlich sein können. So wagte ich ein vorlautes Wort: Ich sei ebenfalls aus Berlin. Schüchtern fragte ich ihn, wo er denn wohne. »Gesundbrunnen« – antwortete er unwillig. Dort hätte ich, erlaubte ich mir zu bemerken, schöne Fußballspiele gesehen. In der Tat habe ich mich in meiner frühen Schulzeit für Fußball interessiert, nur vorübergehend, aber noch wußte ich über die wichtigeren Berliner Mannschaften gut Bescheid. Sein Verein, rühmte sich der Soldat, sei Hertha BSC. Rasch nannte ich die Namen der damals berühmten Spieler – und das hat mich gerettet.
Er war erfreut, in Warschau, in dieser ihm fremden Welt, jemanden gefunden zu haben, mit dem er sich über Hertha BSC und die Konkurrenzmannschaften unterhalten konnte. Derselbe junge Mann, der uns vor kaum einer halben Stunde sadistisch geschunden und uns gezwungen hatte zu brüllen, wir seien dreckige Judenschweine, er, der uns noch vor wenigen Minuten mit der Pistole in der Hand gedroht hatte, er würde uns gleich ins eiskalte Wasser des Schwimmbads jagen – dieser Kerl benahm sich jetzt ganz normal, ja nahezu freundlich. Ich brauchte überhaupt nicht mehr zu arbeiten, auch mein Bruder wurde besser behandelt, er profitierte von meinen verblüffenden Informationen. Nachdem dieser Fußball-Enthusiast aus Berlins Norden beinahe eine Stunde mit mir geplaudert hatte, durften wir, mein Bruder und ich, nach Hause gehen.
So war es: Jeder Deutsche, der eine Uniform trug und eine Waffe hatte, konnte in Warschau mit einem Juden tun, was er wollte. Er konnte ihn zwingen, zu singen oder zu tanzen oder in die Hosen zu machen oder vor ihm auf die Knie zu fallen und um sein Leben zu flehen. Er konnte ihn plötzlich erschießen oder auf langsamere, qualvollere Weise umbringen. Er konnte einer Jüdin befehlen, sich auszuziehen, mit ihrer Unterwäsche das Straßenpflaster zu säubern und dann vor aller Augen zu urinieren. Den Deutschen, die sich diese Späße leisteten, verdarb niemand das Vergnügen, niemand hinderte sie, die Juden zu mißhandeln und zu morden, niemand zog sie zur Verantwortung. Es zeigte sich, wozu Menschen fähig sind, wenn ihnen unbegrenzte Macht über andere Menschen eingeräumt wird.
Deutsche Besucher gab es in unserer kleinen Wohnung jetzt immer häufiger. Ende Januar 1940 wünschten zwei oder drei Soldaten meinen Bruder zu sehen, wahrscheinlich wollten sie ihn verhaften. Zufällig war er nicht zu Hause. Also warteten sie auf ihn. Es handelte sich aber nicht etwa um einen der alltäglichen Übergriffe und Eigenmächtigkeiten, denn das ganze Haus war umstellt, niemand durfte es verlassen oder betreten. Nur um ein kleines, neun- oder zehnjähriges Mädchen, die Tochter unseres Hausmeisters, die auf dem Hof Ball spielte, kümmerten sich die Wachtposten überhaupt nicht. Diesem kleinen Mädchen hatte aber seine Mutter gesagt, es solle, weiterhin Ball spielend, unauffällig auf die Straße gehen, dem Herrn Doktor entgegenlaufen und ihn warnen. So geschah es. Mein Bruder kehrte sofort um und verbarg sich in der Wohnung von Freunden. Inzwischen warteten die Soldaten ruhig und geduldig – ziemlich lange, wohl zwei oder drei Stunden. Dann wurden sie abgezogen; die treuherzige
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