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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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auf die Lesung nicht; sie dauerte denn auch in der Regel nicht lange. »An jenem Tage lasen wir nicht weiter«, berichtet Francesca da Rimini in der »Göttlichen Komödie«. Für uns, dieses ungleiche Paar, galt: »An jedem Tage lasen wir nicht weiter.«
    Der Geschichte dieser Verführung verdankte ich viele, sehr viele Erfahrungen. Eines Tages erzählte sie mir, sie habe seit langer Zeit nur lesbische Verhältnisse gehabt, gelegentliche Versuche mit Männern hätten nichts daran geändert. Ich sei der erste, der ihr die Rückkehr zum männlichen Geschlecht ermöglicht habe. Das sollte mir schmeicheln. Aber es verfehlte seine Wirkung, weil ich sofort den Verdacht hatte, es sei frei erfunden. Daß Frauen nicht selten mit solchen Bekenntnissen ihren Partnern Genugtuung bereiten wollen, habe ich damals noch nicht gewußt.
    Nach zwei, drei Monaten begann mir Tatjanas melodramatische Selbstinszenierung, deren Zeuge ich täglich sein mußte, ein wenig auf die Nerven zu gehen, ich wurde des zunächst so aufregenden Minnediensts allmählich überdrüssig. Was ich damals zu empfinden begann, begriff ich erst später: Ich sehnte mich insgeheim nach einer ganz anderen Beziehung, nach einer jungen Frau, vielleicht nach einer Gleichaltrigen. Es mag sein, daß ich mir dessen an jenem 21. Januar bewußt wurde, als mir plötzlich die Aufgabe zufiel, mich um ein weinendes Mädchen zu kümmern.
    Nach diesem Tag wurden meine Besuche bei der Frau, die mir die ersten Monate der Besatzungszeit erleichtert und verschönert hatte, seltener und hörten bald ganz auf. Wenige Wochen später traf ich sie zufällig auf der Straße. Sie sagte sofort: »Du hast mich allein gelassen, wegen einer Jüngeren.« Ich wollte schon antworten: »So ist das Leben.« Im letzten Augenblick habe ich mich beherrscht und ihr den Gemeinplatz erspart. Sie hat mein Schweigen richtig verstanden. Ich erschrak. Denn in ihren großen blauen Augen sah ich Tränen.
    »Wer am meisten hebt, ist der Unterlegene und muß leiden« – diese schlichte und harte Lehre aus dem »Tonio Kroger« hatte sich mir, als ich die Liebe nur aus der Literatur kannte, fest eingeprägt. Aber erst jetzt begann ich sie zu begreifen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich schaute mich um, ob nicht irgendeine Gefahr sich näherte, eine Razzia etwa. Dann hätte ich sofort fliehen können. Aber alles blieb ruhig, nur ich war unruhig und zerstreut. Mir fiel nichts anderes ein als zu murmeln, ich hätte es leider eilig. Sie lächelte traurig und verständnisvoll, wenn nicht gar mit einer Spur von Neid. Rasch ging ich weg, bemühte mich aber, nicht zu schnell zu gehen: Sie sollte nicht merken, daß ich wegrennen, daß ich fliehen wollte.
    Erst im Februar 1946 traf ich sie wieder: in Berlin, in einem Cafe am Kurfürstendamm. Sie war niedergeschlagen. Das habe schon Gründe, über die sie nicht sprechen wolle und dürfe. Sie tat wieder einmal geheimnisvoll. Ich stellte keine Fragen, und das mag sie enttäuscht haben. Sie trug im Ausschnitt ein nicht kleines ovales Schmuckstück, vielleicht aus Bernstein. Es hing an einem Goldkettchen, das sie schon in Warschau getragen hatte. Überraschend nahm sie es ab und reichte es mir hinüber – mit einer etwas theatralischen Geste. Ich sah sie fragend an. Sie sagte bedeutungsvoll: »Schau dir die Rückseite an.« Zu meiner Überraschung sah ich da auf einem goldenen Plättchen graviert:
     
    Plaisir d’amour ne dure qu’un moment,
    Chagrin d’amour dure toute une vie.
     
    Aber stimmt es denn, was diese poetische Inschrift behauptet? Sollte die Freude, die die Liebe bereitet, wirklich nur kurz und vergänglich sein und der Kummer ein ganzes Leben dauern? Oder ist es vielleicht gerade umgekehrt? Ich schwieg, das Gespräch wollte nicht mehr in Gang kommen. Wir verabschiedeten uns – ganz ohne Groll und, wie mir schien, mit Dankbarkeit auf beiden Seiten. Ich ging, sie wollte noch in dem Cafe bleiben.
    Als ich schon auf der Straße war, rief sie mich zurück. Aber wir wechselten nur noch wenige Worte. »Bleibst du in Warschau?« – »Ja.« – »Und du glaubst wirklich, die Politik sei dein Beruf?« – »Ja.« – »Du machst einen Fehler. Dein Platz ist in Deutschland und nicht in Polen, dein Beruf ist die Literatur und nicht die Politik.« – »Die Literatur ist überhaupt kein Beruf, sondern ein Fluch.« – »Hör auf mit Zitaten. Ich bin nicht Lisaweta Iwanowna, und du bist nicht Tonio Kroger. Ich rate dir noch einmal: Verlasse Polen …« Ich

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