Mein Leben
Menschen von kümmerlicher Bildung. Schon die von ihnen verfaßten Briefe oder Notizen ließen dies erkennen. Oft handelte es sich bloß um Unteroffiziere; wenn es aber bisweilen Offiziere waren, dann meist nur solche, deren Rang dem eines Leutnants oder Oberleutnants in der Wehrmacht entsprach – und sie wurden während ihres Dienstes in Warschau in der Regel nicht befördert.
Vorerst gab es also kein Getto in Warschau. Um so mehr schien es der SS und den vielen deutschen Behörden angebracht, die Juden auf andere Weise schleunigst auszusondern, auszugrenzen und zu demütigen. Ab 1. Dezember 1939 mußten im Generalgouvernement alle Juden im Alter von über zehn Jahren – im Distrikt Warschau war die Altersgrenze zwölf Jahre –, auf dem rechten Arm eine mindestens zehn Zentimeter breite weiße Binde mit einem blauen Davidstern tragen. Den vielen Warschauern, ob nun Deutsche oder Polen, die das Bedürfnis hatten, Juden auf den Straßen zu überfallen, war diese Kennzeichnung sehr willkommen – und sie wurde auch richtig begriffen: Die Juden waren vogelfrei.
Kam einem Juden ein uniformierter Deutscher entgegen, dann hatte er ihm sofort Platz zu machen. Die Anordnung war unmißverständlich. Nicht geklärt war hingegen die Frage, wie sich ein Jude darüber hinaus angesichts eines Deutschen zu verhalten hatte: Sollte er ihm etwa den deutschen Gruß entbieten? Ich habe dies einmal nicht getan und wurde prompt von dem Soldaten, der nicht älter war als ich, geprügelt. Ein andermal habe ich, um der zu befürchtenden Züchtigung vorzubeugen, einen Soldaten sehr wohl gegrüßt, was mir übrigens nichts ausmachte, weil ich ja daran schon seit der Berliner Schulzeit gewöhnt war. Doch der junge Herrenmensch brüllte mich wütend an: »Bist du mein Kamerad, daß du mich grüßt?« – und schlug kräftig auf mich ein.
Sofort wurden besonders gekennzeichnete Lebensmittelkarten für Juden eingeführt. Die Zuteilungen waren erheblich kleiner als die für die nichtjüdische Bevölkerung. Die Auswirkungen waren voraussehbar und geplant: Die Unterernährung und der fatale gesundheitliche Zustand der meisten Juden ließen nicht lange auf sich warten. Die Seifenzuteilungen waren überaus spärlich, die Seife enthielt viel Sand in grauer Farbe. Wer sich mit ihr gewaschen hatte, war schmutziger als vorher.
Eine der vielen Aktionen, die die konsequente Aussonderung der Juden bezweckten, war eine besondere Volkszählung: Jeder Jude mußte einen sehr langen und ausführlichen Fragebogen ausfüllen. Weshalb war den deutschen Behörden an genauen Auskünften gelegen – nicht nur über den Geburtsort und das Geburtsdatum, sondern auch über die Fremdsprachenkenntnisse und die Schulbildung, über den Militärdienst und die berufliche Laufbahn und viele andere Umstände?
Die Fragen nach dem Zweck dieser Erhebung wurden mit der knappen Losung »Ordnung muß sein« beantwortet – eine wenig überzeugende Erklärung, da diese »Ordnung« nur bei Juden erwünscht war. Also befürchtete man das Schlimmste – ausnahmsweise zu Unrecht: Die Riesenaktion hat die Juden zwar viel Mühe und viel Geld gekostet, doch niemandem Schaden zugefügt. Die Volkszählung war, wie sich bald zeigte, vollkommen überflüssig. Denn die deutschen Behörden haben nie Zeit oder Lust gehabt, deren Ergebnisse auszuwerten. Wozu auch? Um Juden zu morden, brauchten sie weder ihre Namen noch ihr Alter zu kennen, weder ihren Beruf noch ihren Bildungsgrad und all die anderen Informationen, die in den Fragebögen angegeben werden mußten.
Für mich allerdings war das Ganze wichtig und folgenreich. Die Erhebung hatte in Warschau, ähnlich wie in anderen Städten des Generalgouvernements, die Jüdische Kultusgemeinde durchzuführen. Damit es klar war, daß es sich jetzt um eine nicht nur konfessionelle Institution handeln sollte, wurde sie von den deutschen Behörden sofort umbenannt: Sie hieß jetzt »Ältestenrat der Juden« und bald, was wohl verächtlicher klingen sollte, »Judenrat«. Für die Volkszählung, die etwa zwei Wochen in Anspruch nahm, benötigte man Hunderte von Büroangestellten, darunter auch solche, die Deutsch konnten. Ich folgte dem Ratschlag von Bekannten und meldete mich, obwohl ich wenig Hoffnung hatte, zumal sich viele Arbeitslose bewarben und ich noch sehr jung war. Dennoch ging ich hin und stand nun inmitten der vielen Kandidaten, die man im großen Saal des Gemeindegebäudes versammelt hatte. Diejenigen, die vorgaben, des Deutschen mächtig
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