Mein Leben
oder andere rituelle Gegenstände, konnte sich Lebensmittel leisten, die für die meisten Bewohner unerschwinglich waren und für alle, ausnahmslos alle ganz unentbehrlich – denn mit den offiziellen Zuteilungen auszukommen war schlechthin undenkbar: Sie reichten gerade aus, um nicht am Hungertod zu sterben.
Viel hing von dem Beruf ab. Lehrer, Rechtsanwälte und Architekten hatten es besonders schwer. Denn es gab im Getto weder Schulen noch Gerichte, und es wurde auch nichts gebaut. Immerhin fanden viele Juristen eine Tätigkeit in der Verwaltung des Gettos oder in der Kommandantur des Ordnungsdiensts, also der (sehr unbeliebten) jüdischen Miliz. Ärzte und Zahnärzte hatten es entschieden besser, sie wurden ja immer benötigt. Das galt für Handwerker ebenfalls, vor allem für Tischler, Schlosser, Klempner, Elektrotechniker, auch für Schneider und Schuster.
Zugleich entstand ein neuer Beruf: der Schmuggler. Tausende von Juden, häufiger Männer als Frauen und eher jüngere Menschen, auch Halbwüchsige, gingen täglich zur Arbeit in großen deutschen Betrieben außerhalb des Gettos. Sie taten es freiwillig, obwohl die Entlohnung minimal war. Der Grund: Sie konnten aus dem Getto Verkäufliches mitnehmen, insbesondere Kleidungsstücke, gelegentlich auch Uhren oder Schmuck; alles wurde schnell zu Schleuderpreisen abgesetzt. Für den Erlös kauften sie Lebensmittel, die sie gegen Abend, wenn die jüdischen Kolonnen zurückkehrten, ins Getto schmuggelten.
Was sich an den Gettoeingängen ereignete, war unvorhersehbar, die deutschen Gendarmen verfuhren ganz und gar willkürlich: Mitunter haben sie den Grenzgängern alles, was sie am Leib trugen, Speck, Wurst oder auch nur Kartoffeln, brutal weggenommen. Es wurde bei diesen Kontrollen auch viel geschossen, an blutigen Opfern mangelte es nicht. Aber es gab auch Gendarmen, die sich anders verhielten: Ihnen war gleichgültig, was die armen Schlucker, diese jüdischen Amateurschmuggler, ins Getto mitbrachten.
Eine ungleich wichtigere Rolle spielten jedoch die professionellen Schmuggler: Juden proletarischer Herkunft, in der Regel große, derbe und stämmige Kerle, die vor dem Krieg ihren Lebensunterhalt meist als Lastträger oder ungelernte Industriearbeiter verdient hatten. Es waren Menschen, die das Risiko einkalkulierten und den Tod offenbar nicht fürchteten. Sie machten gemeinsame Sache mit polnischen Geschäftspartnern ähnlicher Provenienz und mit den deutschen Wachtposten an den Eingängen zum Getto.
So wurden allnächtlich Lebensmittel in riesigen Mengen transportiert: Hunderte von Säcken mit Mehl und Reis, mit Erbsen und Bohnen, mit Speck und Zucker, mit Kartoffeln und Gemüse. Diese Säcke haben die Schmuggler an bestimmten Stellen rasch über die Mauer geworfen oder durch Öffnungen in der Mauer hinübergereicht. Danach haben sie diese Löcher wieder provisorisch geschlossen. Bisweilen erfolgte die Lieferung mit Pferdefuhrwerken oder Lastautos, die anstandslos die offiziellen Gettoeingänge passieren konnten – im Einvernehmen mit den (selbstverständlich bestochenen) deutschen Gendarmen.
Wer an diesem Schmuggel beteiligt war, verdiente viel Geld. Denn die Preise für Lebensmittel waren innerhalb der Mauern mindestens doppelt so hoch wie in den übrigen Stadtteilen Warschaus. Die waghalsigen jüdischen Schmuggler konnten also in Saus und Braus leben, sie gehörten zu jenen, die das Publikum der nicht zahlreichen und sehr kostspieligen Restaurants im Getto bildeten. Nur mußten sie mit einer großen Gefahr rechnen: Irgendwann dämmerte es ihren deutschen Geschäftspartnern, es sei nicht empfehlenswert, jüdische Mitwisser zu haben. Viel klüger wäre es, sich des einen oder anderen schnell zu entledigen, etwa mit einem Pistolenschuß.
Mitten durch das Getto verlief eine der wichtigsten Warschauer Ausfallstraßen, die Ost-West-Achse. An ihr war die Wehrmacht stark interessiert, ganz besonders im Frühjahr 1941, also unmittelbar vor Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges. Denn der ganze Verkehr vom Westen über Warschau nach dem Osten konnte nur über diese Straße geleitet werden. Man hat sie daher vom Getto abgesondert. Dadurch war der den Juden zugewiesene Wohnbezirk geteilt: Es gab jetzt das sogenannte große und das kleine Getto, die durch eine Überführung, eine (übrigens vom »Judenrat« erbaute und finanzierte) Holzbrücke miteinander verbunden waren.
Den deutschen Posten an dieser Brücke bereitete es ein Vergnügen, die Juden, die dort
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