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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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übersetzte und schrieb – und ich bemühte mich um eine ebenso sachliche wie anschauliche Darstellung –, blieben unbeantwortet, die zuständigen deutschen Behörden wollten von alldem, was sich in diesem Teil Warschaus abspielte und worauf der »Judenrat« immer wieder hinwies, nichts wissen. War ihnen die Verbreitung der Epidemie etwa gleichgültig? Nein, keineswegs, sie war ihnen vielmehr willkommen.
    Im Frühjahr 1940 erhielt der von den Juden bewohnte Bezirk eine neue Bezeichnung: »Seuchensperrgebiet«. Der »Judenrat« hatte ihn mit einer drei Meter hohen Mauer zu umgeben, die oben noch mit einem ein Meter hohen Stacheldrahtzaun versehen werden sollte. An den Eingängen zu diesem Terrain, dessen Grenze die Juden nicht überschreiten durften, wurden Tafeln mit einer deutschen und einer polnischen Inschrift aufgestellt: »Seuchensperrgebiet – Nur Durchfahrt gestattet«.
    Die Behörden teilten allen Ernstes mit, es seien menschenfreundliche Motive, die sie veranlaßten, diese Mauern anzuordnen: Sie seien dazu da, die Juden vor Überfällen und Ausschreitungen zu schützen. Gleichzeitig war in den für die polnische Bevölkerung bestimmten Zeitungsartikeln und anderen Veröffentlichungen zu lesen, die Besatzungsmacht sei gezwungen, die Juden zu isolieren, um die deutsche und die polnische Bevölkerung der Stadt vor Typhus und anderen Krankheiten zu bewahren.
    Die verzweifelten Bemühungen des »Judenrats«, die Verbreitung der Epidemien einzuschränken, ergaben wenig oder nichts. Denn die deutschen Instanzen verweigerten jede Hilfe. Statt die leicht erkennbaren Ursachen der Seuche zu bekämpfen, hörten sie nicht auf, die christliche Bevölkerung Warschaus gegen die Juden aufzuhetzen. Als propagandistisches Leitmotiv diente die Gleichsetzung der Juden mit Läusen. Sehr bald wurde klar, was die Deutschen in Warschau anstrebten: Nicht die Epidemien sollten liquidiert werden, sondern die Juden.
    Am 16. November 1940 wurden die 22 Eingänge (später waren es nur noch fünfzehn) geschlossen und von da an Tag und Nacht von jeweils sechs Posten bewacht: zwei deutschen Gendarmen, zwei polnischen Polizisten und zwei Angehörigen der jüdischen Miliz, die »Jüdischer Ordnungsdienst« hieß. Diese Miliz war nicht uniformiert, doch leicht erkennbar: Die Milizionäre trugen neben dem für alle verbindlichen Armband auch noch ein zweites in gelber Farbe, ferner eine Uniformmütze und auf der Brust ein Metallschild mit einer Nummer. Bewaffnet waren sie mit einem Schlagstock.
    So war aus dem »Seuchensperrgebiet«, aus dem offiziell »der jüdische Wohnbezirk« genannten Stadtteil ein riesiges Konzentrationslager geworden: das Warschauer Getto.

 
Die Worte des Narren
     
    Von Zeit zu Zeit konnte man im Getto einen noch jungen, in Lumpen gehüllten Mann sehen, der, stets von belustigten Kindern und Halbwüchsigen begleitet, hüpfend und tänzelnd durch die Straßen lief. Die Passanten waren verwundert, begrüßten ihn jedoch mit Beifall. Sein Erkennungszeichen waren zwei jiddische Worte, die er laut ausrief und, wie ein Zeitungsverkäufer, rasch wiederholte: »Ale glach«, zu deutsch: »Alle gleich«. Ob es sich um einen Befund handelte, eine Voraussage oder eine Warnung, ob der Mann wahnsinnig war oder einen Wahnsinnigen spielte – das wußte niemand. Dieser unheimliche Mann, der Rubinstein hieß, aber »Ale glach« genannt wurde, war der Narr des Warschauer Gettos.
    Waren denn wirklich alle gleich? Berühmte Wissenschaftler und primitive Lastenträger, vorzügliche Ärzte und erbärmliche Bettler, erfolgreiche Künstler und gewöhnliche Hausierer, reiche Bankiers und kleine Betrüger, tüchtige Kaufleute und biedere Handwerker, Orthodoxe, die keinen Augenblick an dem Glauben ihrer Väter zweifelten, und Konvertiten, die vom Judentum nichts wissen wollten und meist tatsächlich nichts wußten – sie alle fanden sich im Getto, sie waren zu Not und Elend verurteilt, sie mußten an Hunger und Frost, an Schmutz und Dreck leiden, sie schwebten in tausend Ängsten. Auf ihnen allen, ob jung oder alt, ob schlau oder dümmlich, lag ein düsterer, ein schrecklicher Schatten, dem man nicht entweichen konnte: der Schatten der Todesangst.
    Daß aber diese sehr unterschiedlichen Menschen im Getto allesamt in der gleichen Situation waren und das gleiche ertragen mußten, traf nun doch nicht zu, jedenfalls vorerst nicht. Wer Ersparnisse hatte, wer etwas besaß, was sich veräußern ließ, zumal Schmuck, Gold oder Silber, alte Leuchter

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