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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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zu sein, schickte man zu einem Prüfer. Meine Prüfung dauerte nicht länger als eine Minute – ich war akzeptiert, doch nur für zwei Wochen.
    Aber daraus ergab sich wenig später eine ständige Tätigkeit. Ich wurde vom »Judenrat« angestellt, um dessen Korrespondenz in deutscher Sprache zu führen. Dieser »Judenrat« hatte zwei generelle Aufgaben. Er mußte das jüdische Viertel, aus dem einige Monate später das geschlossene Warschauer Getto hervorging, verwalten. Er war also eine Art Magistrat einer ungewöhnlichen Großstadt: Schleunigst mußten die notwendigen kommunalen Einrichtungen geschaffen werden. Die andere Aufgabe bestand darin, die Juden und deren unterschiedlichste Belange den Behörden gegenüber, vornehmlich den deutschen, aber auch den polnischen, zu vertreten.
    Der Briefwechsel mit den deutschen Instanzen wuchs schnell. Immer mehr Schriftstücke mußten alltäglich übersetzt werden: bisweilen aus dem Deutschen ins Polnische, meist aber aus dem Polnischen ins Deutsche. Ein besonderes Referat wurde nötig. Man nannte es »Übersetzungs- und Korrespondenzbüro« und beschäftigte dort vier Personen: einen jungen Juristen, eine ziemlich bekannte polnische Romanautorin, Gustawa Jarecka, eine professionelle Übersetzerin und mich. Ich, der Jüngste, der zehn bis fünfzehn Jahre jünger war als die anderen, wurde zum Chef dieses Büros ernannt. Weil man mir organisatorische Fähigkeiten zutraute? Vor allem wohl deshalb, weil ich, was nun kein Kunststück war, besser Deutsch konnte als jene, die plötzlich meine Untergebenen waren.
    Ich wurde also, zum ersten Mal in meinem Leben, gebraucht. Ganz unverhofft hatte ich eine feste Anstellung mit einem Monatsgehalt – wenn auch einem bescheidenen. Ich war zufrieden – nicht zuletzt deshalb, weil ich zum Unterhalt der Familie ein wenig beitragen konnte. Und ich freute mich auf die nicht unheikle Aufgabe. Nur eine Frage, möge das nun zu meinen Gunsten oder Ungunsten sprechen, beunruhigte mich überhaupt nicht – die Frage nämlich, ob ich, über keinerlei Erfahrungen verfügend, der Sache gewachsen sein würde. Damals konnte ich nicht wissen, daß sich diese Situation in meinem beruflichen Leben noch mehrfach wiederholen sollte: Immer wieder sah ich mich vor Aufgaben gestellt, für die ich nicht im geringsten vorbereitet war.
    So begann ich als ein Autodidakt – und ich bin ein Autodidakt geblieben. Nach meinem Abitur hat sich nie jemand bemüht, mir etwas beizubringen. Was ich kann, habe ich selber gelernt. Darauf bin ich nicht stolz, und ich empfehle das niemandem zur Nachahmung. Der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb, bin ich ein Autodidakt geworden. Ich hätte es wahrscheinlich viel leichter im Leben gehabt, hätte ich einige Jahre an einer Universität studiert. Es ist möglich, daß manche, seien es bedauerliche, seien es vorteilhafte Eigentümlichkeiten meiner literarkritischen Arbeiten mit diesem Autodidaktentum zusammenhängen.
    Meine Tätigkeit als Chef des Übersetzungs- und Korrespondenzbüros wurde von Tag zu Tag aufschlußreicher und aufregender. Da die gesamte Korrespondenz zwischen dem »Judenrat« und den deutschen Behörden durch meine Hände ging, hatte ich wie nur wenige Einblick in das aktuelle Geschehen. Eines der wichtigen Themen des Briefwechsels waren die sanitären Verhältnisse im jüdischen Teil der Stadt. Da die Juden aus den umliegenden kleineren Orten systematisch (meist ohne Hab und Gut) nach Warschau umgesiedelt wurden, nahm die Bevölkerung rasch zu: Bald waren es 400000, später sogar rund 450000 Menschen.
    Die Krankenhäuser waren in einem beklagenswerten Zustand und obendrein überfüllt. Die meisten Medikamente konnte man nicht erhalten, auch Kohle und Koks gab es kaum oder nur für viel Geld – und dabei war der Winter 1940 besonders streng. Es fehlte auch warme Kleidung. Überdies war ein beträchtlicher Teil der jüdischen Bevölkerung unterernährt. So ist es nicht verwunderlich, daß schnell Seuchen ausbrachen, vor allem Typhus.
    Der »Judenrat« hat sofort die deutschen Sanitätsbehörden alarmiert. In vielen Briefen, Gesuchen und Denkschriften wurde über die rasche, die erschreckende Ausbreitung der Typhusepidemie ausführlich berichtet. Zahlreiche statistische Angaben sollten die Adressaten überzeugen, daß die Epidemie eine große Gefahr war, und zwar für die ganze Stadt Warschau. Es wurde dringend um Hilfe gebeten.
    Die Reaktion war unbegreiflich, vorerst jedenfalls: Die meisten Briefe, die ich

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