Mein Leben
vorbeigehen mußten (anders konnte man nicht vom kleinen Getto ins große gelangen und umgekehrt), auf besondere Art zu behandeln. Viele wurden ohne weiteres durchgelassen, andere sadistisch gequält. Ging etwa ein bärtiger, womöglich älterer Jude vorbei, wurde ihm befohlen: »Fünfzig Kniebeugen!« Keiner hat das ausgehalten, alle brachen nach zwanzig oder dreißig ohnmächtig zusammen. Wir wohnten einige Monate lang unmittelbar an dieser Holzbrücke. So habe ich den düsteren Zirkus, der sich dort beinahe täglich abspielte und an dem sich die Wachtposten offenbar nicht satt sehen konnten, oft vom Fenster aus beobachtet. An die nächtlichen Schüsse und Schreie hatte man sich bald gewöhnt.
Im Getto existierten, wer hätte das gedacht, auch Taxis, aber keine Autos und keine Pferdedroschken, sondern Rikschas. Das waren Fahrräder, auf denen findige Leute, in der Regel junge Techniker, einen breiten Sitz montiert hatten; er reichte für zwei Personen. Allerdings konnten sich eine Rikschafahrt nur jene wenigen leisten, die Geld hatten. Und öffentliche Verkehrsmittel? Innerhalb des Gettos fuhr eine Straßenbahn, die, wie im vorigen Jahrhundert, von Pferden gezogen wurde. Sie war immer brechend voll – und eben deshalb haben wir, meine Freunde und ich, nie von ihr Gebrauch gemacht. Wir hatten Angst vor Läusen, den wichtigsten Überträgern des Fleckfiebers, wir gingen immer zu Fuß.
Freilich waren die meisten Straßen stets überfüllt – eine leere Straße habe ich im Getto nie gesehen, eine halbleere nur selten. Die gefürchtete Tuchfühlung mit anderen Fußgängern ließ sich nicht immer vermeiden: Auch auf der Straße konnte man sich also eine Laus holen und damit die in den meisten Fällen zum Tode führende Epidemie. Man traf ihn im Getto auf Schritt und Tritt – den Tod. Das ist wörtlich gemeint: Am Straßenrand lagen, vor allem in den Morgenstunden, die mit alten Zeitungen nur dürftig bedeckten Leichen jener, die an Entkräftung oder Hunger oder Typhus gestorben waren und für deren Beerdigung niemand die Kosten tragen wollte.
Zum Straßenbild im Getto gehörten unzählige Bettler, die, an eine Hauswand gelehnt, auf der Erde saßen und laut jammernd um ein Stück Brot baten; ihr Zustand ließ vermuten, daß sie sehr bald nicht mehr sitzen, sondern liegen würden – von Zeitungen bedeckt. Viel Lärm machten die professionellen Straßenverkäufer und die armen Menschen, die irgendwelche Gegenstände, bisweilen Kleidungsstücke, zum Verkauf anboten, um sich etwas zu essen kaufen zu können. Charakteristisch waren auch die »Reißer«. So nannte man Halbwüchsige, die in der Nähe von Läden auf Passanten warteten, die dort Brot oder jedenfalls etwas Eßbares gekauft hatten. Denen entrissen sie unversehens ihr Päckchen, rannten sofort weg oder bissen trotz der Papierverpackung an Ort und Stelle hinein.
Die Verarmung der Getto-Bewohner machte rasch Fortschritte – und die deutschen Behörden bemühten sich, diesen Prozeß noch zu beschleunigen. So wurden 1941 alle im Besitz der Juden befindlichen Pelze mit Beschlag belegt – nicht nur Pelzmäntel, sondern auch Pelzkragen und Pelzmützen. Natürlich wurde im Getto gestohlen, doch gab es keinen einzigen Mordfall – wohl aber einen Fall von Kannibalismus: Eine dreißig Jahre alte Frau, die vor Hunger dem Wahnsinn verfallen war, hat aus der Leiche ihres zwölfjährigen Sohnes einen Gesäßteil herausgeschnitten und zu verspeisen versucht. Als ich den Bericht hierüber ins Deutsche übersetzte, wurde ich darauf hingewiesen, daß diese Sache geheimgehalten werden müsse.
Nur ein einziges Auto gab es im Getto. Es war ein kleiner alter Ford, den der Obmann des »Judenrates«, der Bürgermeister des Gettos also, Adam Czerniaków, als Dienstwagen zur Verfügung hatte. Wenn sich sonst ein Wagen blicken ließ, flohen alle, die Straßen wurden gleich leer. Denn man konnte nicht ausschließen, daß die Insassen, Deutsche, versteht sich, diese unberechenbaren Wesen, plötzlich von ihren Waffen Gebrauch machen und wahllos nach links und rechts in die Menschenmenge schießen würden. Die Deutschen kamen in der Mehrzahl als Touristen. Sie wollten die exotische Welt der Juden besichtigen und hatten freilich oft das dringende Bedürfnis, die Juden zu verprügeln und bei Gelegenheit zu berauben.
Im Getto wurde auch gefilmt: Nicht wenige deutsche Soldaten und Offiziere wollten ein Souvenir nach Hause mitnehmen. Professionelle Filmleute, wohl Angehörige von
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