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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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verhungerten Bettlers – und ich sah in der Dämmerung neben der auf dem Bürgersteig liegenden Leiche einen nicht mehr jungen, in Lumpen gehüllten Mann stehen. Mit dem Blick auf den Verstorbenen sprach oder, richtiger gesagt, murmelte er etwas, was ich nicht verstand. Es muß das Kaddisch gewesen sein, das Totengebet der Juden. Die Passanten gingen schnell vorbei, als würden sie fliehen, ich folgte ihnen ebenfalls rasch, ich lief weiter, mit Hofmannsthals Versen im Kopf, aber ich mußte mich umwenden. Die Leiche war inzwischen mit Zeitungspapier bedeckt. Ich hörte, ganz in der Nähe, Schüsse und Schreie, ich hatte Angst.
    Als ich später im Bett lag und die deutschen Schüsse nicht aufhören wollten, dachte ich an Tosia und an die deutschen Gedichte, die ich ihr vorgelesen hatte, an die Verse, die uns vergessen ließen, was uns täglich bedrohte, was uns inmitten der grausamsten Barbarei stündlich bevorstehen konnte. Aber da gab es etwas, was auf uns noch stärker und noch tiefer wirkte als die Poesie, was uns bis ins Innerste aufwühlte, was uns berauschte. Es war die Musik.
    Juden galten immer schon als musikalisch, besonders jene aus osteuropäischen Ländern. Bei den Warschauer Philharmonikern, in den Orchestern der Warschauer Oper und des Polnischen Rundfunks, in den vielen Ensembles der Unterhaltungs-, Tanz- und Jazzmusik – überall fanden sich nicht wenige Juden. Sie waren nun im Getto und allesamt arbeitslos. Da sie meist keine Ersparnisse hatten, wurde ihre Not von Tag zu Tag größer.
    Damals konnte man überraschende Klänge hören: in einem Hof Beethovens Violinkonzert, im nächsten Mozarts Klarinettenkonzert, allerdings beide ohne Begleitung. Ich sehe sie immer noch vor mir – eine weißhaarige Frau, die ein Instrument spielte, das man auf einer Straße des Gettos wohl am wenigsten erwartet hätte: Erhobenen Hauptes gab sie auf einer Harfe etwas Französisches zum besten, wohl Debussy oder Ravel. Viele Passanten blieben verblüfft stehen, einige legten einen Geldschein hin oder eine Münze.
    Bald kamen einige umsichtige Musiker auf eine Idee: Man könne doch im Getto ein Symphonieorchester organisieren. Um der holden Kunst zu dienen, um den Menschen Freude und Vergnügen zu bereiten? O nein, anderes hatten sie im Sinn: Sie wollten etwas verdienen, um den Hunger zu stillen. Es stellte sich rasch heraus, daß man im Getto ohne Schwierigkeiten ein großes Streichorchester gründen konnte: An guten Geigern und Bratschisten, Cellisten und Kontrabassisten war kein Mangel. Schwieriger war es mit den Bläsern. Mit Hilfe von Inseraten in der einzigen (übrigens sehr schlechten) Zeitung im Getto und auf Anschlagtafeln wurden geeignete Kandidaten gesucht: Es meldeten sich Trompeter, Posaunisten, Klarinettisten und Schlagzeuger aus den Jazzbands und den Tanzkapellen – rasch zeigte sich, daß sie, auch wenn sie nie in einem Symphonieorchester gearbeitet hatten, gleichwohl Schubert oder Tschaikowsky tadellos vom Blatt spielen konnten.
    Doch fehlten drei Blasinstrumente. Und so waren bald etwas sonderbare Anzeigen zu lesen: Hornisten, Oboisten und Fagottisten dringend gesucht. Da sich niemand meldete, mußte man sich, wenn man Symphonien aufführen wollte, anders behelfen: Die Oboenstimmen wurden von Klarinetten gespielt und die Fagottstimmen von Baßsaxophonen – und das klang gar nicht so schlecht. Am schwierigsten hatte man es mit den Hörnern. Man entschied sich für eine allerdings höchst fragwürdige Lösung: Sie wurden mit Tenorsaxophonen ersetzt. Keinen Kummer hatten wir mit den Dirigenten: Es gab im Getto vier, sie alle beherrschten ihr Handwerk recht gut, einer war sogar ein hervorragender Musiker.
    Simon Pullmann, 1890 in Warschau geboren, hatte am Konservatorium in St. Petersburg bei dem berühmten Leopold Auer Violine studiert, später war er als Geiger, Kammermusiker und Dirigent vor allem in Wien tätig gewesen. Daß ihm eine große Karriere nicht gelungen war, mochte damit zusammenhängen, daß er nie gelernt hatte, von seinen Ellenbogen Gebrauch zu machen. Im Sommer 1939 besuchte er seine Familie in Warschau – und konnte Polen nicht mehr rechtzeitig verlassen. So fand sich Pullmann im Getto und galt bald und zu Recht als der bedeutendste unter den dort wirkenden Musikern.
    Er war ein außergewöhnlicher Mensch: selbstbewußt und ehrgeizig, doch sehr still und zurückhaltend und immer besonders höflich. In den Orchesterproben, bei denen ich oft dabei war, habe ich nie von ihm ein

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