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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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»Judenrates« auszuhändigen.
    Das gesamte Archiv wurde in zehn Metallbehältern und zwei Milchkanistern vergraben, an drei verschiedenen Stellen. Von diesen drei Teilen hat man nach dem Krieg nur zwei gefunden, der dritte gilt als verschollen. Ringelblum wurde 1944 zusammen mit seiner Familie von der SS in Warschau aufgespürt und in den Ruinen des nicht mehr existierenden Gettos erschossen.
    Ein stiller, unermüdlicher Organisator war er, ein kühler Historiker, ein leidenschaftlicher Archivar, ein erstaunlich beherrschter und zielbewußter Mann. Immer hatte er es sehr eilig, unsere wenigen Gespräche waren leise, knapp und ganz sachlich. Wenn ich es recht bedenke, habe ich ihn nur flüchtig gekannt. Aber ich sehe ihn immer noch vor mir, ihn, Emanuel Ringelblum, den schweigsamen Intellektuellen – wie ich immer noch den alarmierenden Ruf des plebejischen Narren höre, dessen Botschaft aus nur zwei Worten bestand.

 
Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist
     
    Die Juden im Warschauer Getto wurden gemartert. Ihnen ist Grauenhaftes widerfahren. Aber bisweilen auch Schönes und Wunderbares. Sie haben gelitten. Aber sie haben auch geliebt. Nur war die Liebe damals von besonderer Art. Bei Schnitzler sagt einmal eine Wienerin: »Geh, bleib jetzt bei mir. Wer weiß, ob wir morgen nochs Leben haben.« Auf der Liebe im Getto lastete an jedem Tag und in jeder Stunde die Frage, ob wir morgen noch das Leben hatten. Unruhig war sie und schnell, ungeduldig und hastig. Es war die Liebe in den Zeiten des Hungers und des Fleckfiebers, in den Zeiten der schrecklichsten Angst und der tiefsten Demütigung.
    Die Menschen, junge vor allem, drängten zueinander, sie suchten beieinander Schutz und Geborgenheit und auch Hilfe. Sie waren dankbar für Stunden oder vielleicht bloß für Minuten des Glücks. Ich weiß schon: Die schwebende Pein, von der Goethes Klärchen singt, gehört immer zur Liebe, immer begleitet sie, häufiger unbewußt als bewußt, die Furcht, das Einzigartige, das kaum Faßbare könne so plötzlich zu Ende gehen, wie es begonnen hat.
    Nein, nicht die Vergänglichkeit der Liebe hat damals die Liebenden irritiert, sondern die ständige, die pausenlose Bedrohung, die deutsche Bedrohung: In jedem Augenblick, und sei es im schönsten, hatte man damit zu rechnen, daß plötzlich Soldaten mit Gewehrkolben an die Wohnungstür pochten oder sie gleich einschlugen. Man mußte befürchten, daß sie brutal ins Zimmer drangen. Wenn es gutging, hatte man eine Stunde oder zwei miteinander, füreinander.
    Und die übliche Angst, die häufig, ob im Frieden oder im Krieg, das Zusammenleben junger Leute erschwerte, an der sie jedenfalls litten, die Angst vor der Schwangerschaft? Niemand wollte im Getto ein Kind haben. Aber nicht immer gelang es, die Schwangerschaft zu verhindern, zumal die Präservative, mit denen man sich behalf, nicht selten brüchig waren – was man oft erst merkte, wenn es schon zu spät war. Eine Schwangerschaft unterbrechen zu lassen war nicht schwer: Im Getto gab es viele Frauenärzte, sie waren hilfsbereit, ohne überhöhte Honorare zu verlangen.
    Wir, Tosia und ich, hatten es nicht so schlecht. Sie bewohnte mit ihrer Mutter ein möbliertes Zimmer – und die Mutter hatte die schöne Angewohnheit, die Nachmittage meist außerhalb des Hauses zu verbringen. So konnten wir dort allein sein. Wir erzählten uns gegenseitig unser Leben (und obwohl wir kaum zwanzig Jahre alt waren, hatten wir schon manches zu erzählen), wir lasen Gedichte von Mickiewicz und Tuwim, von Goethe und Heine. Sie wollte mich für die polnische Poesie gewinnen, ich wollte sie zur deutschen Dichtung bekehren und verführen. So gewannen wir einander, und bisweilen unterbrachen wir die Lektüre. Ohne Freuds Formulierung zu kennen, lernten wir die »Polarität von Lieben und Sterben« kennen, die Verquickung von Glück und Unglück. Die Liebe war das Narkotikum, mit dem wir unsere Furcht betäubten – die Furcht vor den Deutschen.
    Als ich nachher von ihr ging, als ich mich beeilte, um noch vor der Polizeistunde zu Hause zu sein, da konnte ich, von Not und Elend umgeben, nur daran denken, was ich gerade erlebt hatte. »Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein« – diese Worte, die Sophie ganz am Ende des »Rosenkavalier« singt, gingen mir durch den Kopf, ich wiederholte sie immer wieder, ich rief sie mir stumm zu, ohne recht wahrzunehmen, was sich um mich herum abspielte.
    Plötzlich sah ich auf meinem Weg die Leiche eines Menschen, wohl eines

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