Mein Leben
Propaganda-Kompanien, waren ebenfalls am Werk. Ihre bevorzugten Motive waren Bettler und Krüppel, deren Anblick jüdischen Schmutz beweisen und Abscheu erregen sollte. Gedreht hat man auch gestellte Szenen: Erbärmlich, wenn nicht abstoßend aussehende Juden wurden von den Filmleuten in ein Getto-Restaurant gebracht. Dem Inhaber des Lokals wurde befohlen, für die unfreiwilligen Gäste den Tisch möglichst reich zu decken. Der Regisseur oder der Kameramann inszenierten ein Gelage: Es sollte zeigen, wie gut es den Juden gehe.
Auch Sexualszenen hat man gedreht: Mit der Pistole in der Hand zwangen deutsche Dokumentarfilmer junge Männer, mit älteren und nicht gerade ansehnlichen Frauen zu koitieren und junge Mädchen mit alten Männern. Diese Filme, die man zum Teil nach dem Krieg in Berliner Archiven gefunden hat, wurden aber nicht öffentlich vorgeführt: Das Propagandaministerium und andere deutsche Instanzen sollen befürchtet haben, die Aufnahmen könnten statt Ekel Mitleid hervorrufen.
Doch das Diktum des mit sonderbaren Verrenkungen durch die Straßen springenden, des offenbar einem unbekannten Ziel zustrebenden Gettonarren traf nicht zu, der Alltag schien seine höhnisch gekreischte Losung zu widerlegen. Eine verschwindend kleine Minderheit, darunter vor allem die Schmuggler, hatte Geld genug, um beinahe wie vor dem Krieg zu leben. Größer war die Zahl jener, die sich zwar nicht satt essen konnten, aber deren Hunger erträglich war, die auf ihre Kleidung achteten und regelmäßig zum Friseur gingen, die sich also der im Getto überall zu beobachtenden Deklassierung widersetzten.
In der Regel ging es den assimilierten Juden, die ausschließlich polnisch sprachen, etwas besser als den orthodoxen und jenen vielen, die, wie immer ihr Verhältnis zur Religion war, dem jiddisch sprechenden Milieu treu blieben. Kontakte zwischen diesen beiden großen Gruppen kannte man vor dem Krieg nur in Ausnahmefällen: Es waren Welten, die, ohne Berührungspunkte miteinander zu haben, sich gegenseitig wenig achteten, wenn nicht gar verachteten. Die Assimilierten warfen den Orthodoxen vor, daß sie in beinahe jeder Hinsicht rückständig seien, diese wiederum meinten, daß die Assimilierten sich vom Glauben und von der Tradition der Väter abwendeten, und zwar vorwiegend aus Gründen der Opportunität. Das alles hat sich nach 1939 nicht geändert, es gab also in Warschau nach wie vor zwei getrennte jüdische Welten. Auch ich kannte im Getto Menschen aus dem jiddischen Milieu überhaupt nicht.
Meine Familie und ich zählten nicht zu den Privilegierten. Keiner von uns war je in einem der berüchtigten Luxusrestaurants. Aber unsere Not hielt sich in Grenzen. Mein Bruder hatte als Zahnarzt einen guten Ruf und also genug Patienten. Meine Arbeit im Amt des »Judenrates« fiel mir nicht schwer und langweilte mich überhaupt nicht. Übrigens kann ich mich nicht beschweren: Nie im Leben hat mich meine berufliche Arbeit gelangweilt.
Viele der Berichte und Gesuche, deren Übersetzung ich zu kontrollieren hatte, und viele der Briefe, die ich selber übersetzte, ließen mich das ganze Ausmaß der Not und des Elends im Getto erkennen. Bald begriff ich, daß ich in einer ungewöhnlichen Situation war: Ich hatte Zugang zu Dokumenten von historischer Bedeutung. Eines Tages geschah es, daß ein Mann, der mir als eine der stärksten Persönlichkeiten des Gettos in Erinnerung geblieben ist, in mein Büro kam und mich um ein kurzes Gespräch bat. Er fragte mich, ob ich bereit sei, ihm zu helfen. Ich hatte über ihn, den Historiker Emanuel Ringelblum, und seine konspirativen Aktivitäten nur Vages gehört, daß er aber Vertrauen zu mir hatte und meine Mitarbeit suchte, schmeichelte mir. Schon damals gab es das Untergrundarchiv, das er gegründet hatte und leitete.
Hier wurde alles gesammelt, was das Leben im Getto dokumentieren konnte: Bekanntmachungen, Plakate, Tagebücher, Rundschreiben, Fahrkarten, Statistiken, illegal erscheinende Zeitschriften, wissenschaftliche und literarische Arbeiten. Daraus sollten künftige Historiker Nutzen ziehen. Auf Grund dieser Materialien wurden auch Berichte für die polnische Untergrundbewegung und für die polnische Exilregierung in London verfaßt. Es versteht sich, daß der Briefwechsel des »Judenrates« mit den deutschen Behörden für das Archiv von großer Bedeutung war. Ich hatte von allen wichtigeren Briefen und Berichten Kopien anzufertigen und sie einem der Mitarbeiter Ringelblums im Sekretariat des
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