Mein Mutiger Engel
dasselbe strahlende Lächeln, mit dem sie früher ihrem jüngeren Bruder zu versichern pflegte, er brauche sich vor seinem Besuch bei dem Zahnzieher nicht zu fürchten. Innerlich beschlich sie indes das unangenehme Gefühl, dass sie genau wie damals falsche Hoffnungen weckte.
Nick zog skeptisch die Augenbrauen hoch. Offensichtlich glaubte auch er nicht daran. "Ich spekuliere darauf, dass mein Vater beim Anblick meiner schönen Gattin meine zahlreichen Sünden vergisst."
Katherine errötete. Sie wusste selbst, dass sie mit ihrem herzförmigen Gesicht und ihren großen Augen nicht als Schönheit gelten konnte. Dazu kamen ihre Eigenständigkeit und ihre direkten Umgangsformen, die dem alten Herrn gewiss nicht gefallen würden.
"Du brauchst mir nicht zu schmeicheln", erwiderte sie. "Erstens glaube ich dir nicht, und zweitens springen die Nachteile unserer Verbindung so sehr ins Auge, dass dein Vater ohnehin nichts anderes mehr an mir bemerken wird."
Nicks Miene wurde ernst. "Ich habe dir schon einmal gesagt, wie schön du bist. Wieso glaubst du mir nicht?"
"Du hast mich mit einer Katze verglichen", rief sie ihm in Erinnerung. "Ich weiß selbst, dass ich nicht dem gängigen Schönheitsideal entspreche. Und mit meinem Eigensinn …"
"Nicht doch", unterbrach sie Nick. "Mit Verlaub, du bist alles andere als eigensinnig oder verwöhnt. Jahrelang hast du das Leben einer unbezahlten Haushälterin geführt und dir das unerhört selbstsüchtige Verhalten deines Bruders gefallen lassen. Wenn du das Eigensinn nennst, dann verstehst du darunter etwas völlig anderes als ich."
"Sagen wir, ich bin zu energisch", lenkte sie ein, ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr seine schonungslose Beschreibung ihres bisherigen Lebens sie erschütterte.
"Eine äußerst nützliche Eigenschaft, die Vater schätzen wird."
"Bis er von meinen Schulden und von der Annullierung unserer Ehe erfährt."
"Warum muss er davon erfahren?", meinte er in aufreizend gelassenem Ton.
"Weil … weil es ihn noch heftiger schockieren wird, wenn wir es ihm erst sagen, nachdem er mich als deine Gattin akzeptiert hat. Übrigens – wird man nicht von uns erwarten, dass wir … ein Schlafzimmer teilen? Ich meine …" Zu ihrem Ärger stieg ihr wieder die Röte in die Wangen.
"Was das betrifft, brauchst du dir keine Gedanken zu machen." Vermutlich wollte Nick sie mit seinem Lächeln beruhigen, doch es reizte sie erst recht.
"Wie sollte ich mir keine Gedanken machen?", rief sie. "Ich bin schließlich keine Närrin!"
"Als verheiratete junge Dame kannst du alle Sorgen getrost deinem Gatten überlassen", gab er belustigt zurück.
Kein Zweifel, er wollte sie bewusst ärgern! Katherine funkelte ihn wütend an. Am liebsten hätte sie ihm eine scharfe Antwort entgegengeschleudert, aber er genoss es ja, mit ihr zu streiten. Je weniger Gefallen er an meiner Gesellschaft findet, sagte sie sich, desto besser werde ich meine Gefühle für ihn verbergen können.
Daher faltete sie die Hände im Schoß und erwiderte mild: "Wie du willst, Nicholas."
Leider erzielte ihr ungewohnt demütiges Betragen das Gegenteil der erhofften Wirkung. Nicholas brach in schallendes Gelächter aus. Dann beugte er sich vor und kniff sie zärtlich ins Kinn. "Weißt du, wie du jetzt aussiehst? Wie eine Katze, die auf ein Lammkotelett äugt und nur darauf wartet, dass die Köchin die Küche verlässt." Nach einem Blick durch das Fenster bemerkte er: "Es regnet. Ich werde Jenny wieder den Platz in der Kutsche überlassen."
Hin- und hergerissen zwischen ihrer Erleichterung, nicht mehr mit Nick allein zu sein, und ihrer Sorge um die beiden Männer, die draußen im Regen saßen, begrüßte Katherine ihre Zofe etwas zerstreut.
"Die frische Luft tat gut", sagte Jenny, "aber von dem harten Kutschbock schmerzen meine vier Buchstaben."
"Jenny! Du hättest John anhalten lassen und hereinkommen sollen."
"Ich wollte Ihnen Gelegenheit geben, sich ausgiebig mit Mr. Lydgate zu unterhalten", rechtfertigte sich Jenny. "Hat er Ihnen von seiner Familie erzählt?"
"Ein wenig. Sein Vater besitzt ein Gut."
"Es muss ein großes Gut sein. Diese Sprechweise und diese Umgangsformen hat der gnädige Herr gewiss nicht hinter einem Pflug oder in einer Dorfschule erworben."
Der gnädige Herr? Soweit Katherine sich erinnerte, hatte Jenny Philip nie so genannt, sondern immer nur "Mr. Philip". Doch sie ging nicht näher darauf ein.
"Ja", bestätigte sie. "Sein Vater konnte es sich offensichtlich leisten, seine Söhne von
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