Mein Mutiger Engel
wusste, wie ihr geschah, hob er sie hoch und schickte sich an, sie in eines der Schlafzimmer hinaufzutragen.
Woher nahm sie die Kraft, ihm zu widerstehen? Oder war es bloß ihr gesunder Menschenverstand, der nun, da sie nicht mehr seinen Mund auf ihrer heißen Haut spürte, wieder die Oberhand gewann?
"Nein! Lass mich runter, Nick."
Am Fuß der Treppe angelangt, hielt er nur für eine Sekunde inne, bevor er wieder ihre Lippen suchte.
"Nein!" Katherine wandte rasch den Kopf ab. Sofort gab er nach und stellte sie auf die zweite Stufe, sodass sie auf Augenhöhe mit ihm stand. "Was hast du vor, Nick?"
Schwer atmend, doch in gelassenem Ton antwortete er: "Ich wünsche mir eine Liebesnacht mit meiner Gattin."
"Das darfst du nicht! Dann könnten wir unsere Ehe nicht mehr annullieren lassen."
Er spielte mit einer Locke, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. "Ist dir das denn so wichtig?"
"Natürlich!" Katherine sah ihn an, als hätte er völlig den Verstand verloren. "Dir liegt sicherlich ebenso wenig an unserer Scheinehe wie mir."
"In Newgate warst du bereit, dich mir hinzugeben."
"Ja, weil ich unsere damalige Vereinbarung nicht brechen wollte", protestierte Katherine. "Aber du …" Entsetzt hielt sie inne, als sie erkannte, wohin ihre Gedanken führten.
"… aber ich sollte ja bald hingerichtet werden, was einen Schlussstrich unter die ganze unerfreuliche Angelegenheit gezogen hätte?", vollendete er wütend ihren Satz.
"Das wollte ich nicht sagen! Du hast mir versprochen, unsere Ehe in einem Monat auflösen zu lassen, daher dürfen wir uns nicht lieben."
"Ich habe es dir unter der Voraussetzung versprochen, dass du es dann noch wünschst. Nach der heutigen Nacht, dachte ich, würdest du deine Meinung vielleicht ändern."
"Oh! Du arroganter …" Katherine rang fassungslos nach Worten. "Du wolltest mich also verführen?"
"Wieso sollte ich dich verführen wollen?", wandte er in gefährlich ruhigem Ton ein, während seine Augen vor Zorn blitzten.
"Abgesehen von rein fleischlichem Verlangen? Vermutlich möchtest du dir die Demütigung ersparen, deiner Familie von der Annullierung unserer Ehe zu berichten."
"Glaubst du, ich lebe lieber mit der Schande, eine Frau gegen ihren Willen verführt zu haben? Ich dachte, wir verstünden einander, Katherine. Anscheinend habe ich mich da geirrt." Mit diesen Worten trat er einen Schritt zurück und legte seine Hand an die Tür. Katherine konnte den Blick nicht von dem hellen Abdruck abwenden, den sein Siegelring auf seinem sonnengebräunten Finger hinterlassen hatte. Nun steckte der Ring an ihrer eigenen Hand und brannte wie ein glühendes Eisen. "Ich schlage vor, du gehst jetzt zu Bett. Sonst werden wir bald wie ein echtes Ehepaar mit den Schürhaken aufeinander losgehen."
Von einem Tischchen nahm er einen Leuchter. "Hier, meine teure Gattin, diese Kerze soll dir den Weg leuchten. Gute Nacht. Zweifellos wirst du besser schlafen als ich."
11. Kapitel
Katherine verbrachte eine unruhige Nacht. Die meiste Zeit lag sie wach, und wenn sie vorübergehend einschlief, plagten sie aufwühlende Träume. Sosehr sie sich bemühte, die Erinnerung an Nicks liebkosende Hände und fordernde Lippen zu verdrängen, ihr von sonderbaren Sehnsüchten erfüllter Körper ließ sie keine einzige Berührung, keinen einzigen prickelnden Schauer vergessen. Den zornigen Wortwechsel am Ende strich sie einfach aus ihrem Gedächtnis.
Um sich abzulenken, probte sie im Geiste, wie sie am folgenden Morgen seinen Vater und seinen Bruder begrüßen würde. Welches Kleid sollte sie anziehen? Was würde der alte Mr. Lydgate von ihr erwarten? Unglücklicherweise stellte sie sich ihren Schwiegervater ganz ähnlich wie einen vierzig Jahre älteren, von kaltem Zorn gepackten Nick vor – kein tröstlicher Gedanke. Und das Bewusstsein, dass die Familie ihres Gatten völlig zu Recht entsetzt und wütend sein würde, wenn sie von dessen Vermählung erfuhr, stimmte sie auch nicht gerade zuversichtlich.
Aus Rücksicht auf Jennys seligen Schlaf versuchte Katherine, sich möglichst nicht im Bett hin und her zu wälzen. Was sollte sie nach der Annullierung ihrer Ehe tun? Auf irgendeine Weise musste sie ihren Lebensunterhalt verdienen.
Mutlos überlegte sie, welche Begabungen sie besaß. Sie konnte gut nähen, aber nicht gut genug, dass eine Tätigkeit als Schneiderin oder Putzmacherin für sie in Frage käme. Sie beherrschte mehrere Fremdsprachen, spielte jedoch kein Instrument, daher eignete sie sich auch nicht
Weitere Kostenlose Bücher