Mein Mutiger Engel
einem Hauslehrer unterrichten zu lassen und sie zur Universität zu schicken."
"Haben Sie sich nun geeinigt? Wollen Sie Ihre Ehe nicht mehr auflösen lassen?"
"Doch, natürlich! Wo denkst du hin?"
"Trotz Ihrer Gefühle für ihn?"
Katherine bemühte sich, die Wahrheit vor Jennys scharfen Augen zu verbergen. "Was meinst du damit? Natürlich bewundere ich Mr. Lydgate für seinen Mut und seine Ritterlichkeit …"
"Ich meine, dass Sie ihn lieben", erwiderte Jenny, die sich als langjährige Vertraute ihrer Herrin solche Offenheit durchaus erlauben durfte. Während Katherine noch nach Worten suchte, um ihr entschieden zu widersprechen, fügte sie hinzu: "Das erkenne ich an den Blicken, die Sie ihm hin und wieder zuwerfen. Und daran, dass Sie es häufig vermeiden, ihn anzusehen. Was empfindet er für Sie?"
"Überhaupt nichts! Wirklich, Jenny, du irrst dich. Mr. Lydgate verhält sich lediglich wie ein Gentleman, der einer Dame in Not beisteht. Bitte rede nicht weiter darüber, sonst werde ich noch rot." Jenny hatte ihre Gefühle für Nicholas also früher erkannt als sie selbst. Hoffentlich durchschauten andere Leute sie nicht so leicht!
Trotz des Regens kamen sie an diesem Nachmittag rasch voran. Am Abend des darauf folgenden Tages hielten sie vor einem Gasthof, einem festen alten Steinhaus in einem Tal hinter der Kleinstadt Marlowe Beck. Während er Katherine aus der Kutsche half, bemerkte Nick: "Morgen liegt höchstens noch eine Stunde Fahrt vor uns. Ich dachte mir, du würdest es vorziehen, ausgeruht und bei Tageslicht anzukommen."
Die Nachricht, dass sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten, entlockte ihr einen Seufzer der Erleichterung. Gleichzeitig beschlich sie jedoch ein mulmiges Gefühl, wenn sie an die bevorstehende Begegnung mit Nicks Familie dachte.
Hinter den Hügeln ging gerade die Sonne unter und warf lange Schatten über die grünen Felder. Im dämmrigen Zwielicht schufen die schwarzen Umrisse des Gemäuers und der dürren, krummen Bäume, die hier und da aufragten, eine geheimnisvolle Atmosphäre.
Nick betrat den Gasthof und kam nach einer Weile in Begleitung des Wirts heraus, der strahlend auf ihn einredete. Da der Wind seine Worte davontrug, konnte Katherine nicht alles verstehen, zumal ihr sein Akzent nicht vertraut war.
"… hintere Salon, Mr. Nick, und keine Sorge … großes Haus … für alle ein Freudentag …"
Schließlich führte Nick sie alle in den Salon, den der Wirt ihnen zur Verfügung gestellt hatte, und öffnete eine Tür in der Wandtäfelung. Dahinter erblickte Katherine eine enge Treppe. "Oben befinden sich unsere Zimmer. Du kannst dir eines für dich und Jenny aussuchen."
"Anscheinend kennst du dieses Haus", stellte sie fest.
"Freilich, Maam", warf der Wirt mit einem herzhaften Lachen ein. "Wir kennen Mr. Nick schon seit Jahren, seit er ein kleiner Junge war. Aber nun werde ich mal Ihr Gepäck nach oben bringen."
Kaum war er gegangen, trat ein Lächeln auf Nicks Gesicht, durch das er plötzlich fünf Jahre jünger wirkte. "Wie herrlich, diesen Akzent wieder zu hören!"
Dieser alte Gasthof gleicht einem sicheren Hafen vor einem Sturm, dachte Katherine, als sie zwei Stunden später nach dem Abendessen gemütlich auf einem Sofa vor dem Kamin saß.
Vom Schankraum her ertönten die Klänge einer Fiedel und noch eines weiteren Instruments, das sie noch nie zuvor gehört hatte. Vor den Fenstern hingen Vorhänge, die offenbar aus einem abgelegten Baumwollkleid genäht worden waren. Das flackernde Feuer im Kamin hüllte die Fliesen auf dem Boden und die polierten Eichenmöbel in ein warmes Licht.
Nick hatte einen alten Satz Spielkarten aufgetrieben und spielte nun mit John, während Jenny Letzterem über die Schulter blickte und ihn zu gewagten Einsätzen ermutigte. Im Schein der Kerzen auf dem Tisch wirkten ihre Gesichter sonderbar maskenhaft. Mit konzentrierter Miene fächerte Nick seine Karten auf, wobei er nachdenklich den Kopf schief legte.
"Ich gehe mit und erhöhe um zehn."
Plötzlich meinte Katherine den jungen Mann zu sehen, der er vor sechs Jahren gewesen war, geradlinig, unerprobt, stolz und hitzig. Er musste an so manchem Abend mit seinen Freunden hier gesessen haben, vielleicht mit den Söhnen der örtlichen Landwirte und Gutsherren. Hier hatten sie gelernt, ihr Blatt zu betrachten, ohne eine Miene zu verziehen, mit den Schankmädchen zu flirten und mit ihren Pferden zu prahlen. Unwillkürlich musste sie lächeln.
John warf seine Karten auf den Tisch. "Du bringst mir
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