Mein Name war Judas
beendete – ich hatte mich auf ein Donnerwetter gefasst gemacht, stattdessen nahm er mir mit seiner unerwarteten Geduld den Wind aus den Segeln –, sah er zu mir auf und lächelte amüsiert. »Höre ich da Eifersucht?«
»Ja, vielleicht«, gab ich zu. »Aber es spielt keine Rolle, wie du es nennst. Denk lieber mal darüber nach.«
»Hättest du dich auch beschwert, wenn du einer von den dreien gewesen wärst?«
»Wahrscheinlich nicht. Aber dann wäre keiner da gewesen, der dich warnt, weil die anderen ja nichts sagen.«
Er nickte, immer noch amüsiert. »Dann danke ich dir für die Warnung, Judas.«
Ich wollte schon gehen, als er sagte: »Ist dir eigentlich bewusst, dass du eine Sonderstellung einnimmst und die anderen dich darum beneiden?«
Ich sah ihn fragend an.
»Du bist der Einzige, der mich schon als Kind kannte.«
Ich wandte mich zum Gehen.
»Judas!« Er griff nach mir und boxte mir an den Arm, so wie wir es als Schuljungen oft getan hatten.
Ich sah ihn an. Sein Lächeln war unwiderstehlich. Es war nicht das Lächeln »Zusammen schaffen wir das, Brüder«, das er aufsetzte, wenn er uns als Gruppe ansprach, nicht das Lächeln »Du bist mein Fels; vergiss niemals, dass ich auf dich baue«, das er für Petrus reserviert hatte, nicht das geduldige, verzeihende Lächeln, mit dem er Thomas zu betrachten pflegte, und auch nicht das des gütigen Mentors, das er Bartolomäus zuteilwerden ließ. Nein, das Lächeln, mit dem er nur mich bedachte, war spitzbübisch, herausfordernd und konspirativ. Es signalisierte eine Begegnung auf Augenhöhe, die Einmütigkeit zweier überlegener Persönlichkeiten, welche die Dinge nicht zu ernst nahmen. Als wollte er sagen: Komm schon, Judas! Du bist doch der Einzige mit Übersicht. Du weißt, wie wir diese Partie spielen müssen, wenn wir gewinnen wollen.
Es war ein Blick, der mir schmeichelte und mich – wie immer – mit ihm versöhnte. Wenn ich an Momente wie diesen denke, bedaure ich meinen Wankelmut, zugleich macht mich die Erinnerung an unsere Nähe und Freundschaft ganz sentimental. Abgesehen von meiner Familie, zu der ich auch meinen Schwager zähle, ist Jesus wohl der Einzige, den ich je geliebt habe.
Jedenfalls sollten wir anderen nicht wissen, was er zu Johannes, Jakobus und Bartolomäus gesagt hatte, als er mit ihnen auf den Hügel mit den Ziegenherden gegangen war. Bartolomäus freilich, der Jüngste in unserem Bunde, fühlte sich so geschmeichelt, dass er nicht für sich behalten konnte, was sich dort zugetragen hatte. Zuerst machte er nur Andeutungen, ließ hier und da eine Bemerkung fallen und begann Sätze mit: »Wenn du versprichst, es für dich zu behalten …« Schon bald führte seine Indiskretion dazu, dass die zwei Brüder mit Fragen bombardiert wurden – natürlich nur, wenn Jesus nicht in der Nähe war. Und bald kursierten verschiedene Versionen der Geschichte, die Jesus den dreien erzählt hatte, zusammengesetzt aus den Versatzstücken, die sie nach und nach preisgegeben hatten.
Es ging um seine Geburt. Die Geschichte, die ich hier wiedergebe, entspricht nicht nur meiner Erinnerung an jene längst vergangene Zeit, sondern ebenso den Predigten von Evangelisten, die durch Sidon ziehen, um Jesu Botschaft zu verbreiten. Sie lautet so:
Obwohl Jesus fast seine ganze Kindheit in Nazareth verbrachte, stammte sein Vater nicht von dort, genau wie meiner. Josefs Heimat war Bethlehem, eine Kleinstadt in Judäa, südlich von Jerusalem. Als Maria zum ersten Mal schwanger war, wurde ein Dekret erlassen, demzufolge alle Männer in Judäa zusammen mit ihren Familien an ihren Geburtsort zurückkehren mussten, um dort eine neuartige Steuer zu entrichten, die der damalige Kaiser Augustus eingeführt hatte. Es war Winter, als sich das junge Paar auf den Weg machte, er zu Fuß, sie auf einem Esel. Vor den Toren Bethlehems nahmen sie bei einem Bauern Quartier, in dem Teil des Hauses, wo die Tiere überwinterten. Dort, im Gestank einer Kuh, zweier Ziegen und einiger Schafe, kam Jesus zur Welt.
Zur selben Zeit erregten merkwürdige Zeichen und Erscheinungen die Gemüter, insbesondere ein sehr heller, neuer Stern am östlichen Himmel. Weise Männer, Berater von König Herodes, berichteten dem Herrscher von diesen Erscheinungen und deuteten diese sogleich in der Weise, dass sie die Geburt eines neuen Königs anzeigten, des »Königs der Juden«. Herodes tat so, als sei er erfreut, in Wahrheit aber war er alarmiert. Zwar war er sich nicht sicher, ob er das Ganze
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