Mein Name war Judas
Kaiphas.
»Wenn ihr Zeugen habt«, sagte Jesus, »so werdet ihr deren Aussagen den meinen vorziehen.«
Kaiphas sagte: »Ich frage dich ein letztes Mal: Bist du der Christus, der Gesalbte? Bist du Gottes Sohn?«
Jesus sah erst Kaiphas an, dann blickte er sich im Saal um. Der Schein der Fackeln zuckte über seine Gestalt und spiegelte sich in seinen Augen, die, wie ich fand, Tapferkeit ausstrahlten, aber keine Furchtlosigkeit. »Das sind deine Worte«, sagte er wieder. »Aber ich sage dir: Du wirst sehen, wie der Menschensohn, der zur Rechten Gottes sitzt, aus dem Himmel herabsteigt, du wirst die Wahrheit meiner Worte erkennen und die Konsequenzen deines Handelns wider mich tragen.«
Sein Mut ließ mein Herz höher schlagen. Wie wunderbar wäre es, wenn er zudem noch recht hätte! Und wie unübertrefflich, wenn er wusste, dass es nicht stimmte, und es trotzdem sagte!
Kaiphas lächelte kühl. Er hatte genug gehört. Er wandte sich an die Sanhedrin. Sie berieten sich kurz, dann nickten alle, und Kaiphas wandte sich wieder dem Angeklagten zu.
»Jesus von Nazareth, wir sind übereingekommen, dass dein blasphemisches Verhalten nur eine Strafe kennt. Gleich am Morgen werden wir dich vor den römischen Statthalter bringen. Nur Pontius Pilatus ist befugt, diese Strafe zu vollziehen.« Er nickte den Wachen zu. »Bringt ihn fort!«
Ich lief auf meinen Onkel zu, doch der drehte sich um und verschwand mit den anderen Mitgliedern des Hohen Rates in einem Hinterzimmer. Ich wusste, dass er mich schon während des Verhörs angesehen hatte. Ich sah meinem Vater sehr ähnlich und auch meinem Onkel, und ich nahm an, dass er von meiner Verbindung zu dem Propheten aus Nazareth bereits gehört hatte. Wahrscheinlich wollte er deswegen nichts mehr mit mir zu tun haben.
Zusammen mit Petrus wanderte ich in dieser Nacht durch die leeren Straßen, und hier und da fanden wir in einem Torweg ein paar Minuten Schlaf. Ausgerechnet wir beide, der Verräter und der Verleugner, wie man uns bezeichnen sollte, durchwachten diese Nacht und fragten uns, was wir tun konnten, um Jesus doch noch zu retten, während die anderen zehn, über die nichts Ehrenrühriges überliefert ist, jedenfalls nichts, wovon ich hier in Sidon je gehört hätte, das Weite gesucht hatten. Manche waren offenbar sofort geflohen und waren die Nacht durchgelaufen, um möglichst bald heimische Gefilde zu erreichen. Hätte Jesus meinen Rat befolgt, hätte er das Gleiche getan.
Kürzlich habe ich Ptolemäus gefragt, was er nach Jesu Festnahme getan habe. Er sagte, man habe untertauchen müssen. »Wir waren ja alle in Gefahr. Keiner von uns war sicher. Und wenn Jesus sterben würde, sollten wir seine Botschaft weiter verbreiten. Das war sein Wille. Wir mussten also am Leben bleiben, um diesen Auftrag erfüllen zu können.«
Wie praktisch, dachte ich. Was für ein ausgezeichneter Grund, um zu überleben! Doch dieser Gedanke war nicht fair. Auch die anderen hätten nichts tun können, um Jesus zu retten.
Ich sagte: »Dann warst du bei der Kreuzigung also gar nicht dabei?« Ich wusste ja, dass es so war.
»Petrus war dabei«, sagte er. »Und wohl noch einer von uns.«
»Nur einer?«
Er nickte und tastete nach seinem Wanderstock. Ich stellte ihm die Sorte Fragen, denen er stets auszuweichen suchte. Seine Darstellung der Ereignisse sollte zu seiner Botschaft passen, und er fürchtete Auskünfte über Einzelheiten, die das Gesamtbild verzerren oder seine Glaubwürdigkeit infrage stellen könnten.
»Wer war dieser eine?«
»Welcher?«
»Der Jünger, der bei der Kreuzigung zugegen war. Du sagtest, da sei noch einer außer Petrus gewesen.«
Er schüttelte den Kopf. »Möglicherweise. Es ließ sich nie mit Bestimmtheit feststellen.«
Ich sagte, ich hätte gehört, Judas Iskariot sei bei der Kreuzigung dabei gewesen.
»Das kann nicht sein«, sagte er. »Ganz gewiss nicht.« Er sah dabei alles andere als sicher aus. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Du weißt doch, dass Judas sich umgebracht hat.«
»Ach ja, das hatte ich vergessen.«
Einst lehrte uns
Andreas: »Die Griechen
streben nach Vernunft,
die Juden aber
wollen ein Zeichen.«
Ist der Fall
der Heiligen Stadt
ein Zeichen, dass
unser Volk das Sehnen
nach einem Messias,
das Sehnen nach Zion
einstellen sollte?
Ehrt die Steine
und lasst sie liegen,
wo sie liegen.
Hört auf den Wind,
die Wellen, die Sprache
der Jahreszeiten.
Und lasst Gott sterben,
altersschwach und ungestört
von unseren Gebeten.
Kapitel
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