Mein Offizier und Gentleman
Sie wäre töricht, sich das Herz von einem Mann brechen zu lassen, der sie kaum wahrnahm. Er war ihr freundlich begegnet, betrachtete sie jedoch als ein Kind. Miss Tremaine war einige Jahre älter und noch dazu eine Erbin. Warum sollte er auch nur einen Gedanken an mich verschwenden, wenn Miss Tremaine so eindeutig bereit war, sich den Hof machen zu lassen, fragte sich Lucy bekümmert.
Jack Harcourt begleitete Miss Tremaine auf deren Bitte in den Wintergarten, denn sie behauptete, dort müsse ihr einer ihrer Diamantohrringe abhanden gekommen sein. Als jedoch das Schmuckstück einfach nicht auftauchen wollte, wunderte er sich.
„Ich muss ihn wohl anderswo verloren haben“, sagte die junge Dame schließlich entschuldigend und sah, die weichen Lippen leicht geöffnet, erwartungsvoll zu Jack auf. „Wie dumm …“
„Haben Sie ihn vielleicht gar nicht verloren? Vielleicht fi nden Sie ihn in ihrem Zimmer? Oder er hat sich irgendwo in ihrem Gewand verhakt.“
„Glauben Sie?“ Sie zupfte an der Spitzengarnitur ihres Dekolletés. „Könnte er wohl hier hineingefallen sein?“
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Jack, dem zu spät aufging, dass seine betonte Aufmerksamkeit bei der jungen Dame übertriebene Erwartung geweckt hatte. „Sie werden Ihre Mutter um Hilfe bitten müssen. Oder am besten wäre, Sie suchen Ihr Zimmer auf, um nachzuforschen. Mir steht nicht einmal eine Überlegung in einer so delikaten Sache zu, Miss Tremaine.“
„Ich würde es auch nicht jedem Herrn gegenüber erwähnen“, hauchte sie. Ihr Blick konnte nur als einladend gedeutet werden. „Aber Sie … das würde mein Zartgefühl nicht verletzen …“
„Es würde mein Anstandsgefühl verletzen, wenn eine junge Dame aus gutem Hause betroffen ist“, antwortete Jack barsch. „Selbst wenn zwischen uns eine gewisse Übereinkunft herrschte, was nicht der Fall ist, würde ich nicht erwarten, mir vor der Hochzeit derartige Freiheiten herausnehmen zu dürfen. Da ich zurzeit keine Heiratspläne habe, sollten wir diese Unterhaltung abbrechen.“
Er wünschte, er hätte nicht so unverblümt gesprochen, denn sie lief scharlachrot an und hastete davon. Er hatte sie nicht brüskieren wollen. Obwohl sie sich ihm seit seiner Ankunft ständig bewusst aufdrängte, hatte er nichts getan, um zu sie entmutigen. In der Tat war sie durchaus die Art Frau, die er sich als Lady Harcourt vorstellen konnte, falls er eine Heirat in Betracht zog; er glaubte nämlich, dass sie nicht sehr feinfühlig und auch nicht sehr verletzlich war. Vor vier Jahren hatte sie debütiert und war immer noch nicht verheiratet, was er sich nicht erklären konnte, da sie nicht nur schön, sondern auch vermögend war. Entweder sie hatte alle Anträge abgewiesen, oder ihre Verehrer hatten ihre Werbung aus unbekannten Gründen zurückgehalten.
Jack verdrängte Miss Tremaine aus seinen Gedanken und ging hinaus in den Garten, um vor dem Schlafengehen eine letzte Zigarre zu rauchen. Nachdenklich schaute er zum Mond auf. Ein kleines Lächeln spielte um seinen Mund, als er sich an seinen Tanz mit Miss Horne erinnerte. Sie war wirklich ein bezauberndes Kind – viel zu jung für ihn, natürlich. Außerdem war ihrer Mutter offensichtlich dieses ver fl ixte Gerede zu Ohren gekommen, sonst hätte sie Lucy kaum unter einem fadenscheinigen Vorwand davon abgehalten, mit ihm zu speisen. Dass da Geschichten herumgingen, verärgerte ihn, nur war es ihm im Moment nicht möglich, sie zu widerlegen.
Als fürsorgliche Mutter konnte Mrs. Horne natürlich nicht anders handeln, und er nahm es ihr auch nicht übel, weil er wusste, welche Gefahren auf ein argloses Mädchen lauerten, das von seiner Mutter nicht behütet wurde. Oder von seiner Stiefmutter, dachte er bitter. Es würde ihn ein gutes Stück Arbeit kosten, Mrs. Horne von seiner Eignung als Ehekandidat für ihre Tochter zu überzeugen. Selbstverständlich würde er sie, wenn es hart auf hart ging, beruhigen können, aber im Augenblick hielt er das nicht für nötig – es ging um ein fremdes Geheimnis, das er fest zu bewahren versprochen hatte. Außerdem hatte er nicht die Absicht, Lucy den Hof zu machen, obwohl sie das bezauberndste kleine Ding war, das ihm seit Langem vor die Augen gekommen war.
Wie Drew und Marianne zugesagt, hatte er an dem Ball teilgenommen, doch nun hielt ihn hier nichts mehr. Früh am nächsten Morgen würde er abreisen. Er hatte in London etwas zu erledigen …
Lucy erhob sich am nächsten Morgen später als üblich.
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