Mein russisches Abenteuer
um sich – plötzlich wollte man nicht mehr wahrhaben, dass
Russland seinen Namen und seine Staatsgründung angeblich einem fremden Volk
verdankte. Generationen patriotischer Historiker versuchten, die Waräger aus
der Landesgeschichte zu verjagen. Eindeutig gelungen ist es keinem.
Vom Dnjepr-Ufer führt ein schmaler Pfad auf die bewaldeten Hügel
über der Stadt. Als ich oben angekommen war, machte ich Halt und folgte mit den
Augen dem Lauf des Flusses. Er krümmte sich, bevor er im Dunst verschwand, zu
einem riesigen, eisgrauen Fragezeichen.
Der Mann, der Russlands Anfänge dokumentiert hat, starrt aus
kohlschwarzen Augen in die Finsternis. Seine Hände ruhen auf einem Schreibpult,
umgeben von den Instrumenten seiner Zunft: rechts die Feder, links das
Tintenfass, dazwischen ein aufgeschlagenes Buch. All diese Attribute aber
versinken in den dunklen Rändern des Gemäldes, überstrahlt von einem grellen
Heiligenschein, in dem seltsam körperlos der Kopf des Chronisten schwebt.
Nestor, der heiliggesprochene Geschichtsschreiber der Rus, wurde ein gutes
Jahrhundert nach der Kiewer Massentaufe geboren, er rekonstruierte die
Machtübernahme der Waräger und die Einführung des Christentums aus früheren,
heute verlorenen Chroniken. Seine »Erzählung der vergangenen Jahre« ist die
älteste überlieferte Chronik der Ostslawen. Zu Papier brachte Nestor sie in
einer Mönchszelle des Kiewer Höhlenklosters, das kurz nach der
Christianisierung gegründet wurde. Die labyrinthischen Klostergänge
unterkellern bis heute die Hügel westlich des Dnjepr-Ufers. Mit einer Kerze in
der Hand war ich den schmalen Tunneln gefolgt, bis Nestors Ikone vor mir
auftauchte.
Eine Weile blieb ich vor dem Heiligenbild stehen. In der Enge des
dunklen Gangs schoben sich Pilger und Touristen an mir vorbei, manche bekreuzigten
sich im Vorübergehen, andere blieben stehen und drückten ihre Lippen auf
Nestors Hände, sein Mönchsgewand, den Holzrahmen der Ikone. Reglos lauschte der
Chronist dem Gebet einer jungen Frau, die minutenlang auf ihn einflüsterte.
Ich musste an die Worte aus der Chronik denken, mit denen Wladimirs
Kundschafter die byzantinischen Kirchen gepriesen hatten: »Auf Erden gibt es
solchen Anblick und solche Schönheit nicht.« Es mussten vor allem die
orthodoxen Ikonen gewesen sein, die die Abgesandten so überwältigt hatten, dass
ihnen die deutschen Kirchen im Vergleich blass und leer vorkamen. Ich sah den
Gang entlang. Eine Armee der Heiligen bewachte die Wände. Ihre Gesichter waren
in der Dunkelheit schwer auseinanderzuhalten, aber das verstärkte nur ihre Wirkung.
Im Kerzenschein blieben allein ihre Augen erkennbar. Sie wirkten so
gespenstisch belebt, dass ich unwillkürlich begriff, was die slawischen
Kundschafter in ihrer Gegenwart gespürt haben mussten: »dass dort Gott unter
den Menschen weilt.«
Nestors Blicke musterten die Pilger, die in endloser Prozession an
seiner Ikone vorbeizogen. Viele Menschen blieben stehen, um den Glasdeckel
eines Sargs zu küssen, der in einer Nische unter dem Heiligenbild stand. Ich
brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass Sarg und Ikone zusammengehören, dass
der Körper, der sich unter dem gewölbten Leichentuch abzeichnet, Nestors Mumie
ist. Ein Taschenspielertrick der Natur bewahrt ihn vor der Verwesung, wie all
die anderen Heiligen, die in gläsernen Särgen die Gänge des Klosters säumen.
Ein Trick der Natur – oder Gottes Wille, je nachdem. In manchen der
Leichentücher klaffen kleine Löcher, aus denen heilige Hände ragen, zu Klauen
verschrumpelt, die Finger zum fünffachen Gottesbeweis gekrümmt. Nestors
Leichnam ist vollständig bedeckt, aber das Wissen, dass unter diesem Tuch die
Hand ruht, die Russlands Anfänge aufgezeichnet hat, umgibt den Sarg wie ein
historischer Heiligenschein.
Nach der Oktoberrevolution wandelten die Bolschewiken das Kloster in
ein »Museum des Atheismus« um. Den Ikonen klebte man Hohnbotschaften auf die
Holzrahmen, man erklärte sie zu Ausstellungsstücken, die den Wahn einer
untergegangenen Welt veranschaulichten. Immerhin, man ließ sie hängen. Andere
Ikonen landeten nach der Revolution im Dnjepr. Wie tausend Jahre zuvor die
Slawengötter trieben nun christliche Heilige den Fluss entlang, unter einem
Himmel, in dem, wie es hieß, kein Gott mehr lebte.
»Sie dürfen hier nicht fotografieren!«
Ein Mönch verstellt in einer der Klosterkirchen einer Reisegruppe
den Weg. »Keine Fotos! Das ist ein Gotteshaus!«
Die Reiseleiterin
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