Mein russisches Abenteuer
geblieben, die russische Schüler geben, wenn sie den Beginn ihrer
Landesgeschichte datieren sollen: 988, Taufe der Rus. War das, wonach ich
suchte, mehr als eine Zahl in einem Schulbuch?
Als ich gerade gehen wollte, stand einer der Eisfischer auf und hob
den Blick in die Hügel über dem Ufer. Kirchenkuppeln säumten die verschneiten
Hänge, gold auf weiß, ein winterliches Zwiebelbeet. Der Fischer führte seine
Fingerspitzen an die Stirn, an die Brust, die rechte, dann die linke Schulter,
bevor er mit der Handfläche das Eis vor seinen Füßen berührte. Er wiederholte
die Gesten ein zweites, ein drittes Mal, dann schulterte er den Eisbohrer und
ging seiner Wege.
Träge trieben die gestürzten Holzgötter den Dnjepr
entlang. Sie ließen Kiew hinter sich, sie durchquerten die südlichen Steppen
und wurden schließlich ins Schwarze Meer geschwemmt. Und mit ihnen verschwand
ein Abschnitt der russischen Vergangenheit. Denn was vor der Taufe geschah,
liegt heute weitgehend im Dunkeln.
Herodot, der griechische Geschichtsschreiber, der im 5.
vorchristlichen Jahrhundert die Schwarzmeerküste bereiste, mühte sich
vergebens, Zuverlässiges über die Welt nördlich der skythischen Steppengebiete
zu erfahren. »Niemand weiß Bestimmtes zu sagen«, klagte er. Mal wurde ihm von
kargen Wüsten berichtet, mal von undurchdringlichen Wäldern oder Sümpfen,
besiedelt von den unerhörtesten Stämmen – kahlköpfig, ziegenfüßig oder gar
einäugig. Noch weiter nördlich, erfuhr der Grieche, scheine die Sonne nur dann,
wenn es anderswo regne, während im Sommer ein Gewitter das nächste jage. Herodot
notierte die Gerüchte skeptisch, nur eins hielt er für gesichert: Unerträgliche
Kälte herrsche an den Rändern der bekannten Welt. Die Luft, versicherten ihm
die Skythen, sei gen Norden »voller Federn«, und was hinter den Federn liege,
wisse niemand. Menschen jedenfalls konnten in diesen Eiswüsten unmöglich leben.
Es muss ein Schock für Herodots griechische Leser gewesen sein, als
aus dem Federgestöber ein paar Jahrhunderte später die ersten nordischen
Langboote auftauchten, bemannt mit Kriegern, deren Haare und Bärte so bleich
waren wie die Schneelandschaften, aus denen sie kamen. Die normannischen
Waräger, Verwandte der Wikinger, erreichten die byzantinische Welt über das
verzweigte Flusssystem, das den europäischen Norden mit dem Schwarzen Meer
verbindet. Unterwegs, an den Ufern der Newa, der Düna und des Dnjepr,
begegneten sie einem bis dahin kaum in Erscheinung getretenen Volk: den Slawen.
Glaubt man der einzigen Quelle, die vom Zusammentreffen dieser
beiden Federvölker berichtet, dann verlief ihre Begegnung mehr als
ungewöhnlich. Die straff geführten Expeditionen der Waräger, ihre schnittigen
Boote, ihre Erfolge als Händler wie als Krieger, all das muss großen Eindruck
auf die slawischen Flussanrainer gemacht haben. Der Streitsucht überdrüssig,
die ihr eigenes Reich zermürbte, wandten sich einige der slawischen Stämme im
Jahr 862 an die »Rus«, ein warägisches Herrschergeschlecht. »Unser Land ist
groß und reich«, erklärten sie den erstaunten Normannen. »Aber es ist keine
Ordnung darin. Kommt, über uns zu herrschen.«
Drei warägische Brüder sollen es gewesen sein, die gemeinsam
ostwärts zogen, um den Wunsch der Slawen zu erfüllen. Rurik, der Erstgeborene,
begründete ein Fürstentum, dessen Machtzentrum Kiew wurde. Zwei Eisvölker
verschmolzen, und fortan bezeichnete man die Slawen und ihre warägischen
Herrscher mit dem gleichen Stammesnamen: Rus.
Die Griechen müssen die Geburt dieses nördlichen Zwitterstaats mit
einigem Frösteln verfolgt haben. Versöhnt fühlen durften sie sich erst, als
Ruriks Urenkel Wladimir ein gutes Jahrhundert später das byzantinische
Christentum nach Kiew brachte. Mysteriöserweise war zu diesem Zeitpunkt bereits
jede warägische Spur aus Russlands Geschichte verschwunden – in den
dynastischen Stammbäumen hatten innerhalb eines Jahrhunderts Igors und Olgas
die Ingvars und Helgas verdrängt. Legten die Waräger ihre nordischen Namen ab,
passten sie sich ihren Untertanen an, wurden sie zu Slawen? Oder ist die ganze
Geschichte von ihrer Machtübernahme eine Legende? Nur eine einzige russische Chronik
berichtet von ihr. Trotzdem verstanden sich Russlands Fürsten und Zaren bis ins
17. Jahrhundert als Erben eines Normannengeschlechts, als Nachfahren Ruriks.
Erst später, nach dem Aussterben der Rurik-Dynastie, griff eine verquere Art
von nationaler Scham
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