Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
Vom Netzwerk:
auch mit umgekehrten Vorzeichen.
    »Dieses Russland – es ist eigentlich überhaupt kein Land!«
     
    Ich brauchte lange, um den ältesten Teil der Höhlen zu
finden. Der Eingang sollte auf einem Hügel südlich des Klosters liegen, abseits
vom Strom der Pilger und Touristen. Den Hügel fand ich schnell, aber was mich
oben erwartete, war so seltsam, dass ich vergaß, wonach ich gesucht hatte.
Steinerne Fabelwesen verstellten mir den Weg. Dicht an dicht säumten sie die
Hänge über dem Flussufer: riesige, exzentrische Villen. Einige waren noch im
Rohbau – das Viertel musste so neu sein wie der Reichtum seiner Bewohner.
Direkt vor mir ragte ein zentaurischer Tagtraum in den Himmel: der Kopf von
Neuschwanstein auf dem Körper des Chrysler-Buildings. In einem vereisten
Springbrunnen pflückten griechische Göttinnen Weintrauben. Als sich neben mir
ein Stahltor auftat, fiel mein Blick ins Mittelschiff einer kathedralenartigen
Garage. In feierlicher Prozession rollten drei schwarze Jeeps ins Freie,
Kühlerfiguren vor sich hertragend wie Priester ihre Ikonen.
    Gegenüber dieser Kultstätte des Kapitals, am anderen Dnjepr-Ufer,
stehen die Plattenbauten der Sowjetära. Ihr ramponiertes Grau füllt den
gesamten Horizont, ein Monument sowjetischer Brüderlichkeit, oder brüderlicher
Dürftigkeit, je nach Blickwinkel. Ich fragte mich, ob sich die Villenbewohner
mit Absicht in Sichtweite dieses sozialistischen Slums niedergelassen haben, ob
der Anblick ihnen das Gefühl gibt, auf der Siegerseite der Geschichte zu
stehen. Wieder einmal hatten in Kiew die Götter gewechselt. Jetzt sind es die
Oligarchen, die triumphierend auf den Fluss blicken, wie hundert Jahre vor
ihnen die Kommunisten, wie tausend Jahre vor ihnen die Christen. Geduldig
fließt der Dnjepr Richtung Süden. In seinem Wasser treiben jetzt keine
Holzgötzen mehr und keine Ikonen, sondern die Spiegelbilder einer bröckelnden
Utopie.
    Im Schatten einer Villa entdeckte ich schließlich den Eingang der
Höhlen. Er war verschlossen. Aber ich hatte Glück. Nicht weit entfernt drängte
sich eine Menschengruppe um einen Priester. Der Priester hatte einen schwarzen
Vollbart und eine markerschütternde Bassstimme. Wie mir bald klar wurde,
lauschten seine Zuhörer dem Bass, ohne den Bart zu sehen. Manche trugen dunkle
Brillen, andere blinzelten unfokussiert in den Winterhimmel.
    »Wer gar nichts sieht«, dröhnte der Priester, »hält sich unten bitte
an die, die ein bisschen besser sehen. Und passt auf mit den Kerzen, meine
Lieben!«
    Unauffällig mischte ich mich unter die Blinden. Als der Priester in
meine Richtung sah, fixierte ich ausdruckslos einen Punkt neben seinem linken
Ohr. Er lächelte wohlwollend. Dann schloss er die Kapellentür auf, verteilte
dünne, gelbe Kerzen und wies uns den Weg in die Unterwelt.
    Zögernde Füße tasteten sich die Stufen hinab. Am Anfang wich ich in
der Enge des Gangs instinktiv den brennenden Kerzen aus, aber ein sechster Sinn
schien den Blinden den Weg zu weisen, sie bewegten sich in der Dunkelheit fast
sicherer als ich. Als eine alte Frau nach meinem Arm griff, schien sie eher
Gesellschaft zu suchen als Halt, ihr leises Geplapper riss nicht mehr ab.
    »Sie sind nicht aus dem Heim, oder? Ist es nicht wunderbar hier?
Jeden Sonntag machen wir diese Ausflüge, letztes Mal waren wir in der
Wladimir-Kathedrale, da hat ein ganz wunderbarer Diakon mit uns gebetet,
wunderbar, ganz wunderbar…«
    Sie verstummte erst, als der Priester seinen Bass durch die Gänge
rollen ließ. Er sprach über die Mongolen. Im 13. Jahrhundert hatten sie Kiew
überrannt, und im allgemeinen Chaos, das über die Stadt hereinbrach, war auch
der Eingang der Höhlen verschüttet worden. Als die Mongolen ein Jahrhundert
später wieder abzogen, war das unterirdische Kloster in Vergessenheit geraten.
Erst Ende des 19. Jahrhunderts erschien einer Kiewerin im Traum ein Regenbogen,
dessen leuchtendes Ende auf einen Hügel am südlichen Dnjepr-Ufer wies. Die Frau
folgte dem Fingerzeig und entdeckte die verschüttete Mündung eines Tunnels.
    Den Archäologen, die wenig später die Höhlen betraten, bot sich ein
seltsames Bild. In den Grabnischen der Klostergänge fanden sie 96 säuberlich
beigesetzte Skelette. Weitere 35 Skelette lagen in verrenkten Posen über den
Höhlenboden verstreut. Es waren die Überreste von Mönchen, die beim Ansturm der
Mongolen lebendig in den Höhlen eingeschlossen worden waren. Sechs Jahrhunderte
waren seitdem vergangen, zu viel Zeit, um noch

Weitere Kostenlose Bücher