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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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festzustellen, ob sie verhungert
waren oder verdurstet oder erstickt. Die Kirche kanonisierte sie als Märtyrer,
und ihre Knochen wurden neben die älteren Skelette in den Grabnischen gebettet.
    Die Stimme des Priesters schwoll zum Donnergrollen, als er das Leid
der Märtyrer beschwor. Sein Bass sprang durch die Jahrhunderte: Erst waren die
Mongolen über die Höhlen hergefallen, dann die Bolschewiken. Den letzten
Klostervorsteher der Sowjetzeit hatte man 1937 erschossen, sein Vorgänger war
vier Jahre zuvor in einem Arbeitslager verhungert. Beide waren inzwischen
heilig gesprochen. Neue Märtyrerknochen füllten die Grabnischen.
    »Betet jetzt mit mir, meine Lieben«, endete der Priester. »Betet mit
mir zu den heiligen Märtyrern.« Er ließ die langgezogenen Silben des Gesangs
durch die Gänge hallen. Die Blinden stimmten ein.
    »Oh heilige Väter, hochwürdige Märtyrer und Leidensdulder der
Swerinez-Höhlen, betet für uns Sünder zu Gott, dem Allbarmherzigen …«
    Singend setzte die Prozession ihren Weg durch die Gänge fort, bis
wir vor den Grabnischen ankamen. Graue Knochen lagen in den Kammern, hinter
Metallgittern, die der Priester als »rein symbolisch« abtat. »Berührt die
Reliquien, meine Lieben! Fasst sie an, es wird euch gut tun.«
    Seine Lieben taten es. Tastende Hände schoben sich durch die
Metallstreben. Entrückt lächelten die Blinden, wenn ihre Finger die Umrisse
eines Schädels, eines Schienbeins, einer gekrümmten Rippe errieten. Die alte
Frau an meiner Seite tastete suchend die Wände ab. »Wo denn, wo?« Ich nahm ihre
Hand und führte sie, erst zögernd, dann zielstrebiger, über die Wölbungen eines
Beckenknochens. Ihre toten Augen strahlten wie Kerzenflammen. »Ja …«, flüsterte
sie. »Ja …« Ihre Finger schienen etwas zu spüren, das meinen Blicken entging.
Plötzlich fühlte ich mich deplatziert und minderwertig – ein sehender Skeptiker
unter Blindgläubigen.
    Ich erlebte das Wunder der orthodoxen Wiedergeburt nicht zum ersten
Mal. Überall in Russland hatte ich die vollen Kirchen gesehen und die
Heiligenbilder in den Bussen und Taxis, und oft hatte ich mich gefragt, wie all
das möglich war in einem Land, in dem siebzig Jahre lang kaum eine Kirche
geöffnet gewesen war. Halb Russland schien blind nach einem Glauben zu greifen,
von dem wenig Sichtbares übrig war – wenig außer Knochen.

Lenins Nase
    Alles an ihm strebt vorwärts. Das ausschreitende Bein, das
gereckte Kinn, selbst die Nase. Die Nase hängt zehn Meter über dem
Bessarabischen Platz im Kiewer Stadtzentrum. Sie ist aus Granit und gehört
Wladimir Iljitsch Lenin. Kühn ragt das revolutionäre Riechorgan in den Wind.
    Je länger man hinsieht, desto weniger begreift man, woher der Wind
weht. Lenins Granitkörper stemmt sich einem unsichtbaren Widerstand entgegen,
sein Blick sucht den Horizont ab, als sehne er sich nach einem Gegner. Man
fragt sich, wofür dieser Mann noch kämpft, wohin es ihn drängt nach all den
Jahren, man folgt seinem Blick – aber da ist nichts. Die Zeit hat dieser Pose
jeden Sinn genommen. Nun illustriert sie nur noch das traurigste aller
historischen Schicksale: Der Mann auf dem Sockel starrt für immer in eine
Zukunft, die vergangen ist, ohne Gegenwart zu werden.
    Ein rotes Zelt steht zu Füßen des Denkmals. Vor dem Zelt steht Vera
Jefimowna, und Vera Jefimowna ist jetzt ganz in ihrer Rolle.
    »Was hier passiert ist? Das kann ich Ihnen sagen, junger Mann, ganz
genau kann ich Ihnen das sagen!« Sie muss über siebzig sein, aber ihre Augen
funkeln wie die einer Jungpionierin. »Ukrainische Faschisten haben dem Führer
des Weltproletariats die Nase abgeschlagen!«
    Mein Blick wandert am Denkmal entlang, vom Sockel bis zum Scheitel.
Lenins Nase ist da, wo sie hingehört.
    »Den ganzen Kopf mussten wir austauschen! Und die linke Hand! Mit
einem Hammer sind sie auf ihn losgegangen! Faschisten!«
    Ihr zorniger Monolog ist sprunghaft, ich brauche eine Weile, um die
Ereignisse zu ordnen. Im letzten Sommer, etwa acht Monate muss es her sein,
wurde Lenin die Nase abgeschlagen. Wer das getan hat, finde ich nicht heraus,
Vera Jefimowna spricht immer nur von »Faschisten«. Inzwischen wurde das Denkmal
restauriert, auf Kosten der Kiewer Kommunisten, die auch das Zelt neben Lenin
aufgestellt haben. Seitdem bewachen Vera Jefimowna und ihre Genossen die Statue
rund um die Uhr, im Schichtsystem, nachts die Männer, tags die Frauen. Sie sind
ehrenamtlich im Einsatz, meist zu dritt, auch heute, zwei

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