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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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Igor
stromaufwärts. An gefährlichen Stellen setzte er uns am Ufer ab, um das Boot
alleine durch Stromschnellen und Felsenketten zu manövrieren. Als die Sonne
unterging, suchte er sofort einen Platz zum Übernachten. Er fand eine
Jagdhütte, die halb verfallen, aber bequemer als jedes Zelt war. Später, am
Lagerfeuer, öffnete er eine Bierdose, die mit einer großen Null beschriftet
war. Fast wäre ich ihm um den Hals gefallen. Es war das erste Mal, dass ich
einen russischen Mann alkoholfreies Bier trinken sah.
    Als wir am zweiten Tag weiterfuhren, begriff ich erst, warum ich den
Fluss am ersten Tag kaum wiedererkannt hatte. Er führte nur noch halb so viel
Wasser wie beim letzten Mal – die Schneeschmelze war vorbei. Ausgetrocknete
Schlammbetten säumten jetzt die Ufer. Vielen Bäumen hatte das abfließende
Wasser den Boden unter den Stämmen weggespült, sie balancierten auf dünnen,
bleichen Wurzeln, wie erstarrte Balletttänzer.
    Gegen Mittag begegneten wir ein paar Anglern. Ihr langes, schmales
Holzboot sah genauso aus wie unseres, bloß lag es gekentert im Wasser, quer zur
Strömung, verkeilt zwischen Felsen. Zu viert zerrten die völlig durchnässten
Männer am Bug. Igor, Ljonja und ich packten mit an, aber das Boot bewegte sich
keinen Millimeter – der Druck des anbrandenden Wassers presste es gegen die
Felsen. Am Ende lieh Igor den Männern seine Axt. Sie zerhackten eine der
Bootsplanken. Erst als das Wasser durch die Öffnung strömte, ließ der Druck
nach, das Boot bewegte sich. Die Angler zerrten es an Land. Sie beschlossen, im
Frühjahr wiederzukommen und die zerhackte Bootsplanke zu ersetzen. In einem
Schlauchboot ließen sie sich stromabwärts nach Abasa treiben.
    »Hätte schlimmer ausgehen können«, sagte Igor, als die Männer
verschwunden waren. »Dieses Jahr sind schon zwei Leute ertrunken.«
    Ein paar Stunden später, am frühen Nachmittag, merkte ich Igor an,
dass irgendetwas nicht stimmte. Er fuhr immer langsamer. Als ich ihn fragte,
was los war, deutete er auf den Fluss. »Wir haben nicht viel Wasser unterm
Kiel. Der Pegel ist niedriger als sonst um diese Jahreszeit.«
    Ich spürte, wie sich mein Herz verkrampfte – mir war klar, dass der
Fluss weiter stromaufwärts noch weniger Wasser führen würde. »Werden wir
durchkommen?«
    Igor wich meinem Blick aus. »Wir werden sehen.«
    In den nächsten Stunden passierten wir regelmäßig Stellen, an denen
der Fluss kaum noch einen halben Meter tief war. Im Schritttempo schlängelten
wir uns zwischen den Felsen durch. Manchmal mussten wir aussteigen, um dem Boot
das Gewicht zu nehmen und es von Hand weiterzuziehen.
    Kurz vor Sonnenuntergang deutete Ljonja, der neben mir saß,
plötzlich stromaufwärts. »Siehst du das Haus?«
    Ich nickte. Ein gutes Stück entfernt zeichnete sich ein heller
Holzbau zwischen den Bäumen ab.
    »Meine Dienstwohnung.« Ljonja grinste. Das Haus stand an der Grenze
des Naturschutzgebiets, er und seine Kollegen hatten es vor ein paar Jahren als
Wachposten gebaut. »Gemütlich, du wirst sehen.« Dann wurde sein Gesicht
plötzlich ernst. »Vor dem Haus ist der Fluss extrem flach. Wenn wir da
durchkommen, ist alles in Ordnung, dahinter wird das Wasser wieder tiefer. Wenn
nicht …« Er beendete den Satz nicht.
    Kurz vor dem Haus teilte sich der Fluss in mehrere Arme. Igor
vertäute das Boot am Ufer und lief mit Ljonja und mir das Gelände ab, um die
tiefste Durchfahrt zu suchen. An den meisten Stellen rann das Wasser über
Kiesbetten, es war kaum zehn Zentimeter tief. »Das wird nichts«, murmelte Igor
kopfschüttelnd, während wir einen Arm nach dem anderen verwarfen. »Zu flach.«
Erst der letzte Arm sah halbwegs schiffbar aus, aber auf halber Strecke stießen
wir auf eine Stromschnelle. Zwischen kantigen Felsen schoss das Wasser
bergabwärts. Skeptisch prüfte Igor das Gefälle. »Versuchen wir’s.«
    Wir warteten am Ufer, während er das Boot holte. Langsam manövrierte
er es bis vor die Stromschnelle, dann drückte er den Gashebel durch. Ruckartig
hob sich der Bug aus dem Wasser, das Boot schoss stromaufwärts, um kurz vor dem
Scheitelpunkt hängenzubleiben. Einen Moment lang kämpfte der Motor, aber die
Strömung war stärker. Mit einem hässlichen Kratzen glitt das Boot rückwärts
über die Steine, zurück ins tiefere Wasser.
    Der zweite Anlauf endete genauso. Beim dritten Mal riss Igor kurz
vor dem Scheitelpunkt das Steuer nach rechts, in der Hoffnung, eine tiefere
Fahrrinne zu erwischen. Einen Moment lang sah
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