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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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flüstern begannen. Einer
wollte Rauch gesehen haben, gelbe Wolken hoch über dem Stadtrand. Ein anderer
hatte von Feuerwehrmännern gehört, die sterbend in den Krankenhäusern lagen.
Die Verwandten eines dritten waren schon in den Süden geflohen, ein vierter
sagte: Ich kenne Leute in der Partei, die streiten alles ab, und wenn die es
abstreiten, dann muss es wahr sein. Unsinn, sagte Vera Jefimowna, die selbst in
der Partei war und von nichts wusste – wenn das wahr wäre, dann hätten sie doch
die Maiparade abgesagt!
    Die Parade aber fand statt. Wie jedes Jahr trug Vera Jefimowna am 1.
Mai 1986 ein großes Lenin-Plakat durch Kiew, während keine hundert Kilometer
entfernt ein Kraftwerk brannte: das Lenin-Atomkraftwerk von Tschernobyl.
    »Siebtens! Als das Kraftwerk explodierte, hielten wir alle zusammen,
wie im Krieg. Sofort fanden sich Helden, die freiwillig in den brennenden
Reaktor stiegen, um Schlimmeres zu verhindern. Die Sowjetunion hat die Welt vor
einer Katastrophe bewahrt.«
    Zwei Jahre nach dem Unfall fuhr Vera Jefimowna nach Tschernobyl.
Vier Monate lang schleppte sie ihre Kamera durch die Sperrzone, die den
ausgebrannten Reaktor umgab, sie drehte einen Dokumentarfilm. Zwei Jahrzehnte
war das inzwischen her, aber die Bilder hatten sich ihr eingeprägt. Während sie
von den Dreharbeiten erzählte, umschloss ihre rechte Hand immer wieder ein
unsichtbares Objektiv, das sie durch eine imaginäre Landschaft schwenkte.
    »Nahaufnahme. Stacheldraht. An den Stacheln – Regentropfen. Sie
lösen sich, fallen herab wie Tränen. Schwenk in die Totale. Hinter dem
Stacheldraht – die verlassene Stadt der Atomarbeiter. Ein Gemälde! Der ganze
Kinosaal heult!«
    Vieles war nach Tschernobyl nicht mehr so, wie es vor Tschernobyl
gewesen war, deshalb nannte man den Dokumentarfilm »Die Schwelle«. Als er in
die Kinos kam, klang der Titel plötzlich, als sei eine ganz andere Schwelle
gemeint – die, vor der mit angehaltenem Atem das ganze Land stand. Was hinter
dieser Schwelle lag, war für Vera Jefimowna schrecklicher als Tschernobyl, es
war der größte anzunehmende Unfall der Weltgeschichte: Die Sowjetunion
explodierte, ihr Kern schmolz, und in einer unkontrollierten Kettenreaktion
begann das Land, sich zu spalten.
    Ohnmächtig sah Vera Jefimowna zu, wie ihre Welt zerfiel. Das
Sowjetreich löste sich auf, eine Unionsrepublik nach der anderen ging eigene
Wege, zuletzt auch die Ukraine. Moskaus europäische Satellitenstaaten
schwenkten in andere Umlaufbahnen ein, selbst die Deutschen wandten sich
plötzlich gegen Marx. Wenig später brach in Jugoslawien Krieg aus, und während
die Nato Bomben auf Belgrad warf, gab der serbische Botschafter in Kiew eine
wirre Pressekonferenz. Vera Jefimowna filmte den Mann fürs Fernsehen. Seine
Warnungen hatte sie sich eingeprägt.
    »Achtens! Heute entsteht in Europa ein neuer Faschismus unter
Führung der USA und der Europäischen Union. Nach
Jugoslawien wird sich der nächste Krieg der Bourgeoisie gegen die Ukraine
richten. Die erste Bombe der Nato wird auf das Kiewer Wasserkraftwerk fallen,
die halbe Stadt wird ertrinken.«
    Ein dunkler, wirrer Sturm zerrüttete Vera Jefimownas Welt. In
kürzester Zeit war alles untergegangen, was Lenin aufgebaut hatte. Nur Lenin
selbst stand noch auf dem Bessarabischen Platz, aber auch das war keine
Selbstverständlichkeit mehr, viele andere Lenin-Denkmäler waren nach der
Unabhängigkeit gestürzt worden. Zuletzt, vor etwa einem Jahr, hatte ein
Politiker vorgeschlagen, alle übrig gebliebenen Lenins auf eine Insel im Dnjepr
zu stellen und einen »Park der sowjetischen Epoche« drumherum zu bauen, als
Touristenattraktion. Vera Jefimowna fand den Vorschlag empörend. Als kurz
darauf die Nationalisten mit dem Vorschlaghammer kamen, war sie fast dankbar,
dass sie nun täglich neben ihrem roten Zelt stehen und den Menschen erklären
konnte, warum Lenin in ihre Mitte gehört und nicht in einen Vergnügungspark.
    »Neuntens! Ich hasse die Bourgeoisie. Ich will nicht unter der
Bourgeoisie leben, das ist wie ein Schritt zurück in die Vergangenheit. Es ist,
als würde morgen plötzlich wieder der Feudalismus ausgerufen.«
    Eines Tages tauchte ein Fernsehteam beim Lenin-Denkmal auf. Man
interviewte Vera Jefimowna vor laufender Kamera. »Was ist Ihr größter Traum?«,
fragten die Journalisten.
    »Ich träume davon«, antwortete sie, »zum Bahnhof zu gehen und eine
Fahrkarte in die Sowjetunion zu kaufen.«
    Am nächsten Tag wurde sie im Bus von einer
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