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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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lassen sich hier
noch agitieren, und Spatzen, und ein verirrter Deutscher.
    Die beiden alten Frauen aus der Frühschicht verfolgen unsere
Diskussion lächelnd. Ich bin mir nicht sicher, ob sie den Streit verstehen, ob
sie ihn überhaupt wahrnehmen. Als ich gehe, verabschieden sie mich wie einen
Verwandten.
     
    Abends suchte ich im Internet nach Lenins Nase. Ich fand
ein Bekenner-Video der Attentäter, gefilmt im Sommer des Vorjahrs. Es beginnt
mit einem Mann, der aus dunkler, grobkörniger Nacht vor die Kamera tritt, nicht
jung und nicht alt, das Haar kurzgeschoren, die Stimme heiser und angespannt.
»Mein Name ist Mykola Kochaniwskij, ich bin ukrainischer Nationalist. Ich führe
die Anordnung des Präsidenten zur Demontage von Denkmälern der totalitären
Vergangenheit aus. Ruhm der Ukraine!«
    Schnitt. Fünf Männer bringen eine sehr lange Leiter in Stellung. Ein
hässliches Kratzen und Schaben, dann ruht ihr oberes Ende auf Lenins Brust.
Kochaniwskij wirft sich einen Beutel über die Schulter. Nach 28 Schritten steht
er Lenin auf Augenhöhe gegenüber, der Kopf des Kommunisten ist doppelt so groß
wie der des Nationalisten. Kochaniwskij zieht einen Hammer aus dem Beutel.
    Die Aufnahme ist schwer zerpixelt, das Zerstörungswerk nur zu
erahnen. Funken sprühen, Schläge hallen durch die Nacht, Eisen auf Granit,
immer wieder. Autos fahren vorbei, Passanten drehen die Köpfe, auf den
umliegenden Balkonen sammeln sich Zuschauer. Niemand stellt Fragen, niemand
greift ein. Erst spät tauchen zwei Milizionäre am Fuß der Leiter auf. Schnitt.
Ende.
     
    »Hallo? Hallooo?«
    »Vera Jefimowna, guten Tag, hier spricht …«
    »Mein kleiner Deutscher!«
    »Genau. Sie wollten mir den Sozialismus erklären, erinnern Sie
sich?«
    »Alles erkläre ich dir! Wann treffen wir uns?«
     
    Wir trafen uns ein paar Tage später am linken Flussufer, in einem
der Plattenbaubezirke, die ich vom Höhlenkloster aus gesehen hatte. Man hatte
mir die Gegend als sowjetisches Bonzenviertel beschrieben, gebaut für
Privilegierte des alten Systems. Es war schwer nachzuvollziehen. Endlose Reihen
von Betonblöcken schoben sich am Fenster meines Busses vorbei, und ich begriff
nicht, wie irgendjemand es als Privileg empfinden sollte, hier zu leben. Erst
als ich ausstieg und zu Fuß weiter zum Treffpunkt ging, merkte ich, dass das
Viertel aus der Nähe nicht halb so trist aussah, wie es mir vom
gegenüberliegenden Flussufer aus vorgekommen war. Austauschbar wirkten die
Plattenbauten nur auf den ersten Blick. Generationen von Bewohnern hatten die
Balkone mit zusammengewürfelten Glas- und Holzresten zu Wintergärten ausgebaut,
sie zierten die Fassaden wie ein Mosaik der Mangelwirtschaft. Pappeln und
Birken säumten den Fluss, und selbst jetzt, im Winter, war zu erahnen, wie grün
die Uferpromenade im Sommer sein musste. Mit ein bisschen mehr Fantasie konnte ich
mir jetzt sogar vorstellen, wie vor fünfzig Jahren ein junger Dozent für
Marxismus-Leninismus stolz die Schlüssel seiner neuen Plattenbauwohnung
entgegengenommen hatte, wie er auf dem Balkon das erste Feierabendbier trank,
und wie er, den Bauch seiner schwangeren Frau tätschelnd, still dem großen
Lenin dankte.
    Die realen Bewohner des Viertels blickten inzwischen auf eine völlig
veränderte Stadtkulisse. Am gegenüberliegenden Dnjepr-Ufer leuchteten die
Zwiebelkuppeln restaurierter Kirchen, flankiert von den Fantasievillen der
neuen Reichen. Vera Jefimowna hasste Gott, und sie hasste Geld. Beides
verschandelte ihr nun Seite an Seite die Aussicht.
    »Hast du Breschnews Datscha gesehen? Der mächtigste Mann der
Sowjetunion lebte in einem winzigen Holzhaus! Und jetzt sieh dir diese Paläste
an – was glauben diese Leute, wer sie sind? Ihr ganzes Leben lang haben sie
keinen Finger gerührt! Sie schieben Geld hin und her, sonst nichts!«
    Wir saßen im Foyer eines alten Intourist-Hotels. Erst verstand ich
nicht, warum wir uns ausgerechnet hier verabredet hatten, aber nach einer Weile
ahnte ich es: Die Hotellobby musste einer der wenigen öffentlichen Orte sein,
wo Rentner im Warmen sitzen konnten, ohne Geld auszugeben. Die
Hotelangestellten ignorierten uns. Sie merkten nicht einmal auf, als Vera
Jefimowna mitgebrachte Kekse auspackte, mit denen wir die Ledersofas
vollkrümelten.
    Sie hatte sich vorbereitet. Zusammen mit den Keksen zog sie ein
Dossier aus der Handtasche. Sie breitete ausgeschnittene Artikel aus
Parteizeitungen vor mir aus: Die Wahrheit über die Bourgeoisie – Zwanzig Jahre
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