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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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dem
einbetonierten Kraftwerk wie eine vergiftete Zuckerstange. Ich hatte Fotos von
1986 gesehen, von einem Feuerwehrmann, der an der Spitze des Lüftungsrohrs die
rote Sowjetflagge hisst, eine letzte Heldentat für ein todgeweihtes Land. In
Kiew hatte ich versucht, den Mann zu finden, aber ein Kollege aus seiner Mannschaft
winkte müde ab. »Er ist tot. Fünf Mann waren wir, alle sind tot. Ich bin auch
fast tot.«
    Ich folgte dem Fluss Pripjat, der den Reaktor einst mit Kühlwasser
versorgt hatte. Nach vier Kilometern erreichte ich die gleichnamige
Geisterstadt Pripjat, gebaut 1970 für die Atomarbeiter. In einer einzigen
Aprilnacht war ihre Einwohnerzahl von 50000 auf Null gesunken.
    Lückenloser Schnee bedeckte die Straßen. Ein panisches Reh sprengte
über den zentralen Stadtplatz, als ich mich näherte. Seine Hufe hämmerten ein
paar unregelmäßige Takte auf den Asphalt, dann kehrte die Stille zurück. Schnee
und Beton und Stille, sonst war da nichts.
    Lange ging ich durch ein verwaistes Schulgebäude. Ich betrat
Klassenräume und fühlte mich angestarrt, obwohl in den Schulbänken seit
Jahrzehnten niemand mehr saß. Wind trieb Schnee durch die zerbrochenen
Fensterscheiben. Unkraut wurzelte in den Parkettritzen, Triebe junger Birken
und Pappeln hatten mit geduldigem Druck einzelne Holzpaneele ausgehebelt.
Dazwischen erzählten aufgeschlagene Schulbücher eine Zufallsgeschichte: Wenn ein Freund
aus einem anderen Land etwas über Wladimir Iljitsch Lenin erfahren möchte, was
erzählst du ihm? – Frieden für die Welt! – In den acht Jahren, die Friedrich Schiller
auf der Militärschule verbrachte, lernte er den Despotismus hassen. – Alles
Beste den Kindern, das ist in unserem Land Gesetz.
    In einem der Räume war der komplette Fußboden mit ausrangierten
Atemmasken bedeckt. Ihre Fischaugen starrten blind ins Leere. Ihre Rüssel
knirschten unter meinen Füßen.
    Lenin war überall. Sein Spitzbuben-Spitzbart zierte Wandzeitungen,
Büsten, Porträts, Bucheinbände. Zweimal las ich seinen Namen auf
Straßenschildern, einmal an der Fassade einer Poliklinik, ungezählte Male an
den Verwaltungsbauten des Reaktors, der nach ihm benannt ist. Ein schneeweißes
Lenin-Denkmal sah ich erst, als ich unmittelbar vor ihm stand. Es verbarg sich
im Schnee wie ein steinernes Chamäleon.
    Erst nach ein paar Stunden staunenden Wanderns begriff ich, was die
eigentliche Faszination dieser verwaisten Landschaft ausmacht. Ihre Leere ist
eine doppelte: Nicht nur die Menschen fehlen, es fehlt alles, was nach 1986
geschehen ist. Die Geschichte hat hier mit einem plötzlichen Knall geendet,
nicht mit dem schrittweisen Umbau, der jenseits des Stacheldrahts stattfand.
Versuchsweise rief ich mir Kiew vor Augen und zog im Geiste alles ab, was nach
einer Atomkatastrophe verschwinden würde. Es kam kein Ort wie Pripjat dabei
heraus. Müll würde in Kiew bleiben, Werbung, das Leuchten der Joghurtbecher, das
Geschrei der Plakate, bleiben würden Widersprüche, Banalitäten, ein sinnloser
Überschuss an Dingen und Bildern, wie ihn nur Konsumgesellschaften produzieren.
Die »Zone« ist anders. Sie ist aus einem Guss. Alles in ihr gehört zusammen,
noch ihre banalsten Überbleibsel sind Teil des sozialistischen Ganzen. Obwohl
ihre Betonfassaden bröckeln, wirkt sie auf gespenstische Art intakter als das
Land, das sie umgibt. Ich hatte ihn gefunden, den »Park der sowjetischen
Epoche«, den sie in Kiew bauen wollten.
     
    Fünfzehn Kilometer vom Reaktor entfernt, zwischen zweitem
und drittem Stacheldrahtring, liegt die Stadt Tschernobyl. Sie wäre
unscheinbar, wenn die Kirche nicht wäre. Ihre frisch geweißten Wände
überstrahlen den grauen Verfall ringsum.
    »Haben Sie keinen Geigerzähler dabei?«
    Vater Nikolaj, ein bärtiger Mann von sechzig Jahren, sah mich
fragend an.
    »Nein.«
    »Gut. Sie brauchen ihn nicht. Er würde in der Kirche nicht
ausschlagen.«
    Jetzt sah ich ihn fragend an.
    »Es ist das Haus Gottes. Die Strahlung dringt hier nicht ein.«
    Und das war, wie sich herausstellte, nur eins von vielen Wundern.
    Vater Nikolaj zog einen scheppernden Schlüsselbund aus den Falten
seines Talars und schloss das Kirchenportal auf. Wir betraten eine Zone in der
Zone. Ungläubig ließ ich den Blick über die Deckenfresken wandern, die
Goldbeschläge der Altarwand, die Ikonen. Knapp über unseren Köpfen schwebte ein
riesiger Kronleuchter, der flackernd erwachte, als Vater Nikolaj das Licht
einschaltete. Sein Strahlen flutete den Raum und
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