Mein russisches Abenteuer
unbekannten Frau
angesprochen. »Waren Sie das nicht gestern im Fernsehen?« Vera Jefimowna nickte
stolz. Was dann geschehen war, regte sie bis heute so sehr auf, dass sie es
nicht in Worte fassen konnte, stattdessen reichte sie mir stumm ein Foto. Es
zeigte ihr Gesicht. Ich erkannte es nicht gleich, weil zwischen lauter
Blutergüssen nur wenig Gesicht übrig war. Die Frau im Bus war keine Anhängerin
der Sowjetunion.
»Zehntens! Natürlich gab es Fehler, es gab Irrtümer. Nur wer nicht
handelt, macht keine Fehler – das hat Lenin gesagt. Wir mussten den Kommunismus
von Null aufbauen. Niemand hat uns den Weg gezeigt, wir waren die Ersten, die
ihn gegangen sind. Wir waren wie Gagarin im Weltall.«
Vera Jefimowna klappte ihr Dossier zu. Ein paar Sekunden lang sah
sie mich schweigend an.
»Fragen?«
Ich hatte ihrem Vortrag weitgehend wortlos zugehört, und die vielen
Fragen, die mir durch den Kopf gegangen waren, wirkten in der unerwarteten
Stille der Hotellobby plötzlich bedeutungslos. Zwei junge Rezeptionistinnen
warfen mir amüsierte Blicke zu. Im Lauf des Vortrags hatte ich sie mehrmals
entsetzt die Augen aufreißen sehen, aber nach einer Weile hatten sie sich an
die ungewohnte Rhetorik gewöhnt und weiter ihre Fingernägel gefeilt. Jetzt
schienen ihre Blicke zu sagen: Armer Kerl, wie bist du nur dieser Verrückten in
die Hände gefallen? Ich sah weg. Vera Jefimowna und ich mochten in
verschiedenen Welten leben, aber so sehr mich ihr Weltbild irritierte, ich
konnte diese Frau nicht unsympathisch finden.
»Sie haben von Fehlern gesprochen, Vera Jefimowna, von Irrtümern«,
sagte ich schließlich. »Was waren das für Fehler?«
Erst nach dem Gespräch wurde mir klar, dass Vera Jefimowna meine
Frage anders verstand, als sie gemeint war. Ich dachte an die erschossenen
Priester, die Lager, die Schauprozesse, die Deportationen. Sie dagegen fragte
sich, warum ihre Welt untergegangen war.
»Die Sowjetmacht war zu gut zu den Menschen«, sagte sie. »Sie war zu
weich, zu milde.« Zornig verengten sich ihre Augen, sie sprach die Worte jetzt
mit einer Härte aus, die alle Weichheit der Vergangenheit korrigieren sollte.
»Wir waren nicht streng genug zu unseren Feinden. Das war unser Fehler.«
Der Mann, der Lenins Nase auf dem Gewissen hat, zerdrückte mir mit
seinen riesigen Händen fast die Finger. Ich traf Mykola Kochaniwskij in einem
Café in der Innenstadt, ein Kiewer Journalist hatte mir seine Telefonnummer
gegeben. Am Telefon hatten wir keine gemeinsame Sprache gefunden – ich verstand
sein Ukrainisch schlecht, er wollte kein Russisch sprechen. Trotzdem schafften
wir es irgendwie, uns zu verabreden. Zum Treffen brachte er seinen Anwalt mit,
als Übersetzer. Ich hielt seine Weigerung, Russisch zu sprechen, zuerst für
eine politische Marotte – die beiden Sprachen ähneln sich stark, fast jeder
Ukrainer versteht Russisch, die meisten wachsen zweisprachig auf. Doch als
Kochaniwskij nach den ersten paar Sätzen schließlich doch ins Russische
wechselte, weil das umständliche Hin und Her der Übersetzung seine Redewut
bremste, begriff ich, dass er die Sprache tatsächlich schlecht beherrschte. Er
sprach sie selten, er mochte sie nicht. Für ihn war es »die Zunge der
Besatzer«.
Trotzdem kam er nicht, wie es die politische Geografie des Landes
nahegelegt hätte, aus der Westukraine. Er war in einer Kleinstadt im Südosten
aufgewachsen, nicht weit vom Schwarzen Meer entfernt. »Kosaken-Erde«, sagte er.
Er sprach das Wort mit einer Zärtlichkeit aus, die sein Cholerikergesicht einen
Moment lang in das eines anderen, sanfteren Mannes verwandelte.
Jede Spur dieses Mannes verschwand, als Kochaniwskij über seine
Familiengeschichte sprach. Er erzählte von seinen Großeltern, die nach der
Oktoberrevolution gegen die Bolschewiken gekämpft hatten, wie so viele hier, wo
es dem neuen Regime nur mit Mühe und Gewalt gelungen war, seine Macht zu
festigen. Noch in den Dreißigerjahren misstraute Stalin dem Frieden in der
Ukraine. Als er bei der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft erneut Widerstand
witterte, ließ er den Unwillen der Bauern durch eine künstlich ausgelöste
Hungersnot brechen. Das geschah auch in anderen Teilen der Sowjetunion, aber
nirgends traf es die Bauern so hart wie in der Ukraine. Millionen starben,
manche sagen: Dutzende von Millionen. Niemand kennt die Zahlen genau, weil in
vielen Regionen schlicht niemand übrig blieb, der die Toten hätte zählen
können.
Auch in Kochaniwskijs Familie
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