Mein russisches Abenteuer
ökonomischer
Völkermord – Warum sie uns anlügen . Daneben legte sie sechs
handbeschriebene Blätter. Es waren ihre Thesen zum Sozialismus. Sie las sie mir
vor, laut, mit entschlossener Stimme. So blieb mir unser Gespräch in
Erinnerung: eine Lebensgeschichte, unterbrochen von Lautsprecherbotschaften.
»Erstens! Die Slawen haben einen stärkeren Gemeinsinn als andere
Völker, ein ausgeprägteres Bewusstsein für das Kollektiv. Nicht zufällig wurde
gerade bei den Slawen die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gegründet –
die U d SSR .«
Sie war in den späten Dreißigerjahren zur Welt gekommen, in einer
kleinen Siedlung in der Ostukraine, umgeben von den Stahlwerken und
Kohleschächten des Donbass-Beckens. In ihren Kindheitserinnerungen tauchte eine
Großmutter auf, ihre Eltern dagegen blieben vage, als seien sie im Schauspiel
ihres Lebens nie die Hauptfiguren gewesen.
»Zweitens! Die Deutschen haben der Welt Marx und Engels geschenkt,
sie formulierten die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft. Die
Slawen schenkten der Welt Lenin und Stalin, die die Idee des Sozialismus in die
Tat umsetzten.«
Ihre Kindheit endete früh. Als die Deutschen kamen, schickte man die
Männer aus der Siedlung in den Krieg, die Frauen wurden mit den Kindern nach
Kasachstan evakuiert. Nach dem Krieg kehrten sie heim, aber ihre Häuser standen
nicht mehr. Vera Jefimowna sah ihren Vater nie wieder. Aus der ganzen Straße
ihrer Kindheit kehrte nur ein einziger Mann von der Front zurück. Die Frau des
Mannes war überglücklich, sie trug ihr ganzes Geld in den Laden und backte eine
Torte. Dann rief sie die vaterlosen Kinder der Straße zusammen: Kinder, rief
sie, seht her, ich zeige euch etwas! Das hier, das nennt man eine Torte! So
haben wir vor dem Krieg gegessen!
»Drittens! In den Dreißigerjahren brauchte der Kapitalismus einen
Krieg. Ganz Europa lag vor Hitler im Staub. Erst die U d SSR hat das faschistische Deutschland zerschlagen.«
Ein paar Jahre nach dem Krieg zeigte ihr eine Nachbarin einen
Bildband mit alten Gemälden. Es waren die russischen Klassiker: Repin, Lewitan,
Kuindschi, Surikow. Vera Jefimowna sah die Gemälde an. Sie war elf, ihre
Kindheit war vorbei, aber sie hatte die Liebe ihres Lebens entdeckt: Bilder.
Ein paar Jahre später starb Stalin. Vera Jefimowna nahm den nächsten
Zug nach Moskau. Sie kam zu spät zur Trauerkundgebung, aber sie sah Stalin
aufgebahrt im Mausoleum liegen, gleich neben Lenin. Sie weinte, wie sie noch
nie geweint hatte.
»Viertens! Bis zur Oktoberrevolution war Russland ein
analphabetischer Agrarstaat. Meine Großmutter war eine einfache Frau vom Land,
sie konnte weder lesen noch schreiben. Ich, ihre Enkelin, habe zwei
Studienabschlüsse.«
An einer ukrainischen Provinzhochschule schrieb sie sich für Chemie
ein, aus Vernunft, nicht aus Leidenschaft. Tagsüber starrte sie müde auf
Elemententafeln, ihre Nächte gehörten den Bildern. Sie las alles, was die
örtliche Bibliothek hergab, nach der Malerei entdeckte sie die Fotografie, nach
den Fotos das Kino. Als sie das Chemiediplom abgeschlossen hatte, bewarb sie
sich an der Moskauer Filmhochschule. Hundert Kandidaten konkurrierten um einen
Studienplatz. Bei der Aufnahmeprüfung ließ man sie Bilder aus einem Stapel
ziehen, wer die Gemälde nicht auf Anhieb benennen konnte, war draußen. Ohne
Zögern antwortete Vera Jefimowna: Repin, Lewitan, Kuindschi, Surikow. Sie wurde
genommen. Sie wurde Kamerafrau.
»Fünftens! Von allen Künsten ist das Kino die wichtigste – das hat
Lenin gesagt. Charlie Chaplin brachte den kleinen Mann auf die Leinwand, aber
erst die U d SSR schenkte der Welt Regisseure, die den Proletarier zum Helden machten:
Eisenstein! Pudowkin! Dowschenko!«
Nach dem Studium schickte man sie in die Ukraine zurück, nach Kiew.
Man gab ihr Arbeit in den Dowschenko-Filmstudios, benannt nach einem der
größten Regisseure der sowjetischen Pionierjahre. Auf dem Gelände stand ein
Apfelbaum, den hatte Alexander Dowschenko persönlich gepflanzt. Wenn Vera
Jefimowna unter dem Baum saß, wurde ihr vor Stolz manchmal ganz eng ums Herz.
Da saß sie, die Enkelin einer ungebildeten Bäuerin, und erntete die Früchte der
Revolution.
»Sechstens! Nicht die kapitalistischen Länder, sondern die U d SSR hat den ersten
Kosmonauten ins Weltall geschickt: Juri Gagarin, den Sohn einer Bauernfamilie.«
Die Jahre vergingen. Vera Jefimowna war nicht mehr jung, aber noch
nicht alt, als eines Tages die Menschen in Kiew zu
Weitere Kostenlose Bücher