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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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konnte niemand die Opfer beziffern.
Ein Onkel war im Säuglingsalter verhungert, vier Brüder des Großvaters hatten
in sibirischen Lagern gesessen. Das waren die Fälle, die Kochaniwskij in
Archiven dokumentiert gefunden hatte. Andere Familienangehörige hatten nur in
den Erinnerungen von Verwandten überlebt, ihre Geschichten wurden von
Generation zu Generation weitergeflüstert – genau wie ein Satz Lenins, den
Kochaniwskij von seinem Vater gehört hatte: »Das Brotmonopol ist in den Händen
des Arbeiterstaats ein mächtigeres Werkzeug als die Guillotine.«
    Kochaniwskij ließ den Satz nachwirken, dann beugte er sich plötzlich
vor, ich spürte seinen Atem im Gesicht. »Es war Lenins Idee, die Ukrainer
verhungern zu lassen. Umgesetzt wurde sie erst nach seinem Tod, von Stalin,
aber geplant hat es Lenin. Und mich wollen sie vor Gericht stellen! Mich! Vor
Gericht gehört Lenin!«
    Seit einem halben Jahr wartete Kochaniwskij jetzt auf seinen
Prozess. Die Ermittlungen zogen sich hin, der Staatsanwalt prüfte noch die
Beweise, konkret: die Splitter von Lenins Nase. Vorgeworfen wurde Kochaniwskij
»Hooliganismus«, definiert im ukrainischen Strafgesetzbuch als »unmotivierte
Gewalt«. Kochaniwskij akzeptierte den Vorwurf nicht. Er hämmerte seine
Argumente mit der Handfläche auf die Tischplatte: »Meine Gewalt ( bamm! )
ist extrem ( bamm! )
motiviert ( bamm! ).«
    Seinen Anschlag hielt er nicht für ein Verbrechen. Er berief sich
auf eine »Anordnung zur Demontage von Denkmälern der totalitären
Vergangenheit«, erlassen von Viktor Juschtschenko, dem Präsidenten, der 2005
nach der Orangenen Revolution an die Macht gekommen war. Juschtschenko hatte
vieles ändern wollen in der Ukraine, auch den Umgang mit Lenin. Seine Anordnung
aber war so schwammig formuliert, dass es den zuständigen Behörden leichtfiel,
sie zu ignorieren. Auch aus Juschtschenkos sonstigen Revolutionsversprechen war
nicht viel geworden, weshalb die Ukrainer ihn bald wieder abgewählt hatten.
    »Aber seine Anordnung ist immer noch in Kraft!«, rief Kochaniwskij,
gefolgt vom Bamm! seiner Handfläche. »Und wenn niemand sie ausführt, dann führe ich sie eben
selbst aus!«
    Das Attentat hatte er lange geplant. Erst hatte er an kleineren
Denkmälern geübt, um im richtigen Moment zu wissen, worauf es ankommt. »Granit
ist schwer kleinzukriegen. Du musst wissen, wo die empfindlichen Stellen sind.
Auf die Nase musst du schlagen!«
    Ein Grinsen spreizte sein Gesicht, und nicht zum ersten Mal im Lauf
des Gesprächs spürte ich so etwas wie Sympathie für diesen wütenden Mann. In
seinen besseren Momenten wirkte Kochaniwskij einfach wie ein Getriebener, der
Unrecht nicht auf sich beruhen lassen kann – und solange er seine Rache nur an
Denkmälern ausließ, würde er sie wenigstens nicht an Menschen auslassen, wozu
er zweifellos imstande war.
    In seinen schlechteren Momenten war Kochaniwskij eine Geisel jener
Vergangenheit, die er zerschlagen wollte. Zwei Stunden lang hörte ich Sätzen
zu, die mit begründeter Wut begannen, bevor sie sich hoffnungslos in
Verschwörungstheorien verstrickten. Alles erlittene Leid der Ukraine war in
Kochaniwskijs Augen aus Russland gekommen, und wiedergutmachen ließ es sich nur
mit neuem Leid. Man musste die Russen treffen, wo es ihnen am meisten wehtat,
man musste ihre Geschichte zerstören, Denkmal für Denkmal, Nase für Nase.
    »Jetzt wollen sie einen Park für Lenin bauen!«, stöhnte
Kochaniwskij, kurz bevor wir uns verabschiedeten. »Meinetwegen, baut einen
Park. Aber nicht in Kiew! Es gibt in der ganzen Ukraine nur einen einzigen Ort,
wo Lenin seine Ruhe vor mir hätte.«
    Fragend sah ich ihn an.
    Er hob die Hand.
    »Tschernobyl!«
    Bamm!

Der Erlöser von Tschernobyl
    In aller Frühe brach ich auf und fuhr durch Schnee und
Morgenröte, bis ein Schlagbaum meinen Weg versperrte. Meine Papiere waren in
Ordnung, der Schlagbaum hob sich wie ein Finger. Er wies in einen wolkenlosen
Himmel.
    Einst stach man einen Zirkel in eine Landkarte. Kreisend schnitt er
4300 Quadratkilometer Welt von der Welt ab. Konzentrische Ringe aus
Stacheldraht ordnen bis heute das Niemandsland: die Dreißig-Kilometer-Zone, die
Zehn-Kilometer-Zone, die Reaktor-Zone. In der Mitte steht ein Sarg. Begraben
liegt hier unter 300000 Kubikmetern Stahlbeton: Block IV des
Lenin-Atomkraftwerks von Tschernobyl, havariert am 26. April 1986 um 1 Uhr 23,
Unfallursache: menschliches Versagen.
    Das rot und weiß geringelte Lüftungsrohr ragte aus
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