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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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weitere Frauen stehen
neben dem Zelt.
    Wir plaudern. Die Frauen zeigen mir Fotos von Lenin-Denkmälern aus
aller Welt: Havanna, Kalkutta, Kopenhagen, überall wird Lenin verehrt, nur in
der Ukraine will man ihn loswerden. Auch ein Berliner Lenin ist dabei, aber das
Foto ist alt, und ich bringe es nicht übers Herz, den Frauen zu sagen, dass die
Statue schon vor Jahren abgerissen wurde. Sie tun mir leid. Die beiden, die mir
die Bilder zeigen, sind noch älter als Vera Jefimowna. Sie wirken froh, eine
späte Lebensaufgabe gefunden zu haben, in einer Welt, die für Kommunisten wenig
Verwendung hat.
    »Bist du einer von uns?«, fragen sie. »Bist du unser Mensch?«
    Ich verstehe nicht. Sie kichern. » DDR oder BRD ?«
    Ich verstehe. »Aufgewachsen bin ich in Westdeutschland.«
    »Aber du bist für die Sowjetmacht?«
    Die Frage trifft mich so unerwartet, dass mir nicht sofort eine
Antwort einfällt. »Ich habe nie unter der Sowjetmacht gelebt«, sage ich
vorsichtig. »Ich kann mir den Sozialismus nicht vorstellen.«
    Sie nicken stumm. Jetzt sind sie es, die Mitleid haben.
    Vera Jefimowna greift nach meinem Arm. »Zwei neun fünf acht acht
sieben null. Meine Telefonnummer. Ruf mich an, wir treffen uns, ich erkläre dir
den Sozialismus.«
    Dann verschwindet sie. Ihre Ablösung ist da. Drei Männer treten zur
Nachtschicht an, zwei von ihnen Rentner, der dritte erkennbar jünger, er trägt
eine abgewetzte Offiziersjacke. Ich höre ihn mit den Frauen flüstern – ein
Deutscher, interessiert sich für Lenin, nein, aus dem Westen. Der Mann läuft
auf mich zu, mit einem sarkastischen Lächeln auf den Lippen. Bevor ich ihn auch
nur grüßen kann, geschweige denn angreifen, eröffnet er den Gegenangriff.
    »Sie sind also einer von denen, die die Sowjetunion für das Böse
schlechthin halten.«
    »Ich …«
    Aber es ist sinnlos. Ich kann ihn nicht aufhalten. Dieser Krieg hat
begonnen, bevor wir beide geboren wurden, und es steht nicht in meiner Macht,
ihn zu beenden.
    »Freiheit, immer redet ihr von Freiheit – was ist das für eine
Freiheit, die fremden Völkern mit Gewalt aufgezwungen wird?«
    Er wartet nicht auf meine Antworten, er braucht sie nicht, er kennt
sie genau, meine Antworten. Ich öffne und schließe den Mund wie ein
gestrandeter Fisch, unfähig, seinen Redefluss zu unterbrechen. Er liest mir
Anklagen von den Lippen ab, die ich nie formuliert habe, nur um sie mit
Gegenanklagen zu kontern: Ostberlin 1953? Serbien 1999! Budapest 1956?
Afghanistan 2001! Prag 1968? Irak 2003! Wir stehen uns gegenüber wie zwei
Imperien. Ich bin der Westen, ich bin Amerika, ich bin die Nato. Vor allem aber
bin ich die Bourgeoisie.
    »Natürlich würden Sie uns Kommunisten liebend gerne ausrotten,
junger Mann, Sie können gar nicht anders, es ist Ihre historische Rolle, und
Sie spielen sie ganz hervorragend. In der Ukraine hat es die Bourgeoisie
inzwischen geschafft, die Kommunisten fast vollständig aus dem Parlament zu
verdrängen. Erzählen Sie mir nicht, das sei der Wille des ukrainischen Volkes!
Sie sind viel zu intelligent, um dahinter nicht die Manipulationen der
internationalen Ausbeuterklasse …«
    Nur dieses eine Mal schaffe ich es, eine Antwort einzuwerfen. »Ich
nehme an, die Kommunisten werden nicht gewählt, weil sie sich nie entschuldigt
haben.«
    »Entschuldigt?« Mit gespielter Verwunderung hebt er eine Augenbraue.
»Wofür? Nennen Sie mir nur ein Verbrechen, für das wir um Verzeihung bitten
müssten.«
    »Ich habe keine Rechnungen zu …«
    »Eins. Nur eins.«
    Ich weiß, dass ich ihn nicht ändern werde. Trotzdem sage ich, dass
ich in den Swerinez-Höhlen war, ich erwähne die erschossenen Priester – warum,
frage ich, wozu?
    Er lacht ein trockenes, hässliches Lachen. »Dialektik, junger Mann.
Ganz einfach. Die Priester behaupteten: Es gibt Gott. Die Bolschewiken
bewiesen: Es gibt ihn nicht. Idealismus gegen Materialismus. Unvereinbare
Thesen. Durchsetzen kann sich nur eine. Gesetz der Geschichte.«
    Sein Zynismus verschlägt mir den Atem. »Geschossen hat nicht die
Geschichte«, protestiere ich.
    »Oh doch, junger Mann«, erwidert er lächelnd. »Oh doch. Und sie wird
wieder schießen, ob es Ihnen gefällt oder nicht.«
    Nach einer Viertelstunde spüre ich, wie ich innerlich aufgebe. Meine
Konzentration lässt nach, und mit ihr mein Russisch. Ich sehe Lenin an. Seine
linke Hand, die ausgewechselte, ist zur Rednergeste erstarrt, sie agitiert für
immer die Massen. Aber das Publikum ist ausgedünnt. Nur Tauben
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