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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Geschlechtsorgan des Toten als winzig, missgebildet und zum Beischlaf nicht
fähig.
    Die widersprüchlichen Gerüchte rissen mit Rasputins Tod nicht ab. Im
nachrevolutionären Petersburg raunte man sich bald zu, der Prediger sei von
seinen Mördern rituell entmannt worden, als Rache für seine Eskapaden. Ähnlich
wie Gogols Nase entwickelte Rasputins Gemächt in der Folge ein Eigenleben, es
geisterte durch die Weltgeschichte. In den Zwanzigerjahren wurde es angeblich
in Paris gesichtet, wo es einem Zirkel russischer Emigrantinnen als unorthodoxe
Reliquie diente. Rasputins Tochter Matrona, die es nach der Revolution
ebenfalls nach Frankreich verschlug, soll über die Fruchtbarkeitsrituale ihrer
Landesgenossinnen so empört gewesen sein, dass sie das väterliche Organ
beschlagnahmte. Verbürgt ist, dass Matrona Rasputina später nach Kalifornien
auswanderte, wo sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Tigerdompteurin auftrat, im
Zirkus von Los Angeles. Der Legende nach soll sie das Gemächt ihres Vaters nach
Amerika geschmuggelt und bis zu ihrem Tod im Jahr 1977 verwahrt haben. Ein paar
Jahre später behauptete ein Londoner Auktionator, aus dem Nachlass der
Rasputin-Tochter einen »Sensationsfund« erworben zu haben. Noch vor der
Versteigerung entpuppte sich das Objekt als vertrocknete Seegurke.
    Wieder zwei Jahrzehnte später, 1999, klingelte Doktor Knjaskins
Telefon. Ein Patient war am Apparat. Es sei dringend, sagte er, Knjaskin müsse
sofort kommen, so etwas habe er noch nie gesehen! Knjaskin, der
Prostata-Spezialist, kannte solche Anrufe. Ruhig bleiben, antwortete er, kommen
Sie in meine Praxis, da können Sie mir zeigen, was Sie auf dem Herzen haben.
Brüsk fiel ihm der Patient ins Wort: Doktor Knjaskin! Ich rede nicht von meinem Penis!
    Der Patient war, wie sich herausstellte, der Vizevorsitzende des
Russischen Verbands der Antiquare. Ein französischer Kollege war an ihn
herangetreten, er bot ihm eine Holzschatulle an, angeblich aus dem Nachlass von
Rasputins Haushälterin, die ihre letzten Lebensjahre in Paris verbracht hatte.
Zu dritt trafen sie sich in der Wohnung des Patienten. Der Franzose packte die
Schatulle aus. Knjaskin öffnete sie. Ein verschrumpeltes, formloses Etwas
klebte an ihrem Boden. Knjaskin nickte stumm. Der Franzose nannte eine
astronomische Summe. Am Ende einigten sie sich auf 8000 Dollar.
    Natürlich wusste Knjaskin nicht, was er da erwarb, und heute, ein
gutes Jahrzehnt später, war er im Grunde kein Stück schlauer. Längst hatte er
aufgehört, die Echtheit seines Fundstücks zu hinterfragen. Für ihn war das, was
da vor unseren Augen schwamm, nicht mehr und nicht weniger geheimnisumwittert
als Rasputin selbst, insofern passte beides zusammen, auch wenn es
möglicherweise nie zusammengehört hatte. »Was Sie hier sehen«, sagte Knjaskin
mit atemlosem Stolz, »hat den Gang der russischen Geschichte möglicherweise
entscheidender beeinflusst als das Panzerrohr des Kreuzers Aurora!«
    Aus dem verschrumpelten, formlosen Etwas war nach sorgfältiger
medizinischer Behandlung ein vorzeigbares Exponat geworden. Wem die kapitale
Trophäe einst gehört hatte, ließ sich trotz aller Untersuchungen nicht mehr
belegen. DNA -Tests kamen nicht in Frage: Von
Rasputin war nichts übrig geblieben, was als Vergleichsmaterial getaugt hätte.
Geblieben war nur ein großes, formaldehydgetränktes Fragezeichen, aus dem
nichts in der Welt mehr ein Ausrufezeichen machen konnte.

Käfer und Kommunisten
    Zurück nach Moskau nahm ich den Schnellzug. Nicht weil ich
es eilig hatte, sondern weil es der einzige echte Schnellzug des ganzen Landes
ist, die einzige russische Fernverbindung, bei der man kein Bett bucht, sondern
einen Sitz.
    Die Fahrt fühlte sich an wie eine Reise in die Zukunft. Alles, was
sonst eine russische Zugfahrt ausmacht, war wegrationalisiert: die mütterlichen
Schaffnerinnen, der Bord-Samowar, die Umkleiderituale, die körperliche Nähe,
das mitgebrachte Essen, die streitenden Familien, die betrunkenen Soldaten, der
rumpelnde Herzschlag der Räder. Selbst der typische Geruch fehlte, diese
Mischung aus Autowerkstatt und Zwiebeln und Bettwäsche. Es roch penetrant nach
gar nichts. Alleinreisende Cappuccino-Trinker und Laptop-Tipper füllten die
schallisolierten Großraumabteile. Meine Sitznachbarin zog diskret ihren
Ellbogen ein, als ich Platz nahm. Ohne vom Computer aufzusehen, erwiderte sie
meinen Gruß, dann schwieg sie, wie der Rest des Abteils. Es herrschte die gleiche
peinlich gewahrte

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