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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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ich!«
    Ungläubig starrte ich ihn an. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass
er die absurde Legende glaubte.
    »Eine alte Frau hat mir die Geschichte erzählt«, sagte er. »Sie war
dabei, in Matronas Wohnung. Sie hat Stalin selbst gesehen.«
    Das also war der Trick. Selbst Vater Jewstafij hatte es nicht
gewagt, Stalin als Heiligen malen zu lassen. Stattdessen hatte er eine
Matrona-Ikone in Auftrag gegeben, in der Stalin nur als Gast auftauchte, als
scheinheilige Nebenfigur einer Heiligenvita. Dabei ließ Vater Jewstafij keinen
Zweifel daran, dass er den Tag herbeisehnte, an dem Stalin nicht mehr am Rand,
sondern im Zentrum einer Ikone stehen würde, als Heiliger, mit Heiligenschein.
Aber er wusste, dass der Tag noch nicht gekommen war. »Es ist zu früh. Das Volk
ist noch nicht so weit.«
    Ich wurde nicht schlau aus ihm. Es gab Momente, in denen seine Sätze
wie alberne Provokationen klangen, wie der Trotz eines Teenagers. Dann wieder
wirkte er todernst, aufgewühlt, fast verzweifelt. Unsicher sah ich ihn an. Der
Bart machte es nicht leichter, seine Seelenregungen zu entschlüsseln.
    Vorsichtig lenkte ich das Gespräch auf seine Lebensgeschichte, in
der Hoffnung, zu begreifen, was ihn antrieb. Er behauptete, blutsverwandt mit
Lenin zu sein, aber das Verhältnis war so weitläufig, dass ich den Faden
verlor, während er seinen Stammbaum aufdröselte. Als junger Mann hatte er die
naheliegendste Berufswahl getroffen, die ein Verwandter Lenins treffen konnte:
Er war Dozent für Marxismus-Leninismus geworden, er hatte das Wort des Heilands
verkündet. An einer technischen Hochschule hatte er angehende Ingenieure
gelehrt, dass es Gott nicht gab und nicht geben konnte.
    »Ich war Karrierist«, sagte er bitter.
    Als Gott alle Beweisführungen ignorierte und überraschend in sein
Leben trat, verlor er seinen Job. Man feuerte ihn und schloss ihn aus der
Partei aus, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass in seiner Wohnung Ikonen
hingen, dass er betete. Eindringlich malte er mir die Parteiverhöre aus, die
ritualisierten Umerziehungsversuche. »Du sitzt an einem Tisch, sie reden auf
dich ein, und dir wird klar, dass du umgeben bist von Feinden, Feinden,
Feinden!«
    Es war unbegreiflich. Er hatte selbst unter den Verfolgungen
gelitten, die er verharmloste, er verweigerte anderen das Mitleid, um das er
warb. Hatte ihn der Widerspruch in seiner Lebensgeschichte blind gemacht für
alle anderen Widersprüche? Je länger ich ihm zuhörte, desto mehr hatte ich den
Eindruck, dass die Stalin-Ikone das Werk eines Verzweifelten war. Sie war der
Versuch, die beiden Hälften einer zerbrochenen Biografie zusammenzusetzen, den
Parteifunktionär mit dem Priester zu versöhnen. Nur wenn Stalin Gott war, hatte
Vater Jewstafijs Leben einen Sinn gehabt.
    Zwanghaft verteidigte er die Grausamkeit dieses Gottes, die für
Vater Jewstafij nur in der Natur seines Reichs lag. »Russland ist nicht
Holland«, donnerte er. »Russland ist gigantisch! Es braucht Gewalt, Gewalt und
nochmals Gewalt, um ein solches Land zu regieren!«
    Ich formulierte Einwände, aber wir fanden keine gemeinsame Sprache.
Als ich mich nach zwei Stunden von Vater Jewstafij verabschiedete, hatte ich
das Gefühl, selten in eine widersprüchlichere Gedankenwelt hineingesehen zu
haben.
    Auf dem Weg zur Wohnungstür blieb mein Blick an einer zweiten Ikone
hängen. Ich erkannte Alexej, den ermordeten Sohn des letzten Zaren.
Zusammengesunken saß er auf einem Thron in der Mitte des menschenleeren
Winterplatzes, die Arme kraftlos im Schoß gefaltet, das Gesicht blass unter
einem grellen Heiligenschein. Hinter ihm stand, die rechte Hand auf die
Schulter des kränklichen Thronfolgers gelegt, ein zweiter Scheinheiliger ohne
Heiligenschein. Er war gut getroffen. Die irren Augen gehörten unverkennbar
Grigorij Rasputin.

Vierundzwanzig Zentimeter
    Grigorij war siebzehn, als er seinem Heimatdorf den Rücken
kehrte. In Pokrowskoje weinte ihm niemand eine Träne nach. Mit einem Seufzer
der Erleichterung strich der Dorfpolizist den jugendlichen Ausreißer aus dem
Ermittlungsregister, wo einiges zusammengekommen war in den vergangenen Jahren:
Ruhestörung, Diebstahl, Trunksucht, Mädchenschändung.
    Zu Fuß brach Grigorij auf, und zu Fuß durchquerte er in den
folgenden zwei Jahrzehnten halb Russland. Manche sagen, er sei bis nach
Griechenland gepilgert, andere wollen ihn in Jerusalem gesehen haben, aber
bezeugen kann es niemand, wie so vieles im Leben dieses rätselhaften Mannes
unbezeugbar

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