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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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wurden gefeiert. Als einer von ihnen kurz nach der
Blutnacht das Opernhaus betrat, stand der ganze Saal auf und applaudierte
minutenlang. Petersburgs Aristokratie sprach von einem Befreiungsschlag, der
das diskreditierte Zarenhaus vor der Katastrophe bewahrt habe. Alle, die der
Monarchie in Russland noch eine Zukunft gaben, atmeten auf. Aber es war zu spät.
    »Zar von Russland«, hatte Rasputin in seinem letzten Brief an
Nikolaj gewarnt: »Wenn Du die Glocke hörst, die Dir sagt, dass Grigorij
ermordet wurde, dann wird niemand aus Deiner Familie, kein Kind Deiner
Verwandten, noch länger als zwei Jahre am Leben bleiben. Das russische Volk
wird sie töten.«
    Die Prophezeiung ging in Erfüllung. Ein paar Monate noch sperrte
sich Nikolaj gegen jede Einschränkung seiner Macht, während sie ihm zusehends
entglitt. Die bürgerliche Februarrevolution von 1917 zwang ihn zur Abdankung,
aber auch sie konnte die angestaute Wut nicht mehr besänftigen. Fast
übergangslos stolperte Russland in die Oktoberrevolution. Nikolaj, der Zweite
und Letzte, starb im Kugelhagel der Bolschewiken, keine zwei Jahre nach
Rasputins Tod.
    Fast gleichzeitig grub in Sankt Petersburg ein bolschewistisches
Exhumierungskommando Rasputins Überreste aus. Sein Grab war zur Pilgerstätte
geworden, man wollte ihn endgültig loswerden. Säuberlich wurde der vergiftete,
erschossene, erschlagene, ertränkte Leichnam nun auch noch verbrannt. Die Asche
verstreute man in alle vier Winde. Nichts blieb übrig von Rasputin.
    Nichts?
    Doktor Knjaskin, der anderer Meinung war, führte mich durch das
Kellergeschoss einer Petersburger Prostata-Klinik. Am Ende des Gangs deutete
der Chefarzt wortlos auf eine gläserne Vitrine. Im Inneren stand ein
Einweckglas, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. Ich sah hin, sah weg,
blinzelte ungläubig, sah wieder hin.
    »Sind Sie sicher …?«
    »Nicht hundertprozentig«, antwortete Knjaskin. »Aber es gibt überzeugende
Indizien.«
    Ich schluckte. »Konnten Sie irgendwelche medizinischen
Besonderheiten feststellen?«
    »Nun ja«, sagte der Arzt. Er sprach das Offensichtliche aus. »Es ist
ein ungewöhnlich großes Organ. Vierundzwanzig Zentimeter. Im Ruhezustand, wohlgemerkt.«
    Vor unseren Augen schwamm, eingelegt in Formaldehyd, Rasputins
Penis.
    Doktor Knjaskin räusperte sich. »Es ist eine lange Geschichte.«
    Während er erzählte, wanderte mein Blick immer wieder ungläubig in
Richtung Einmachglas. Doktor Knjaskin war, soweit ich es beurteilen konnte, ein
halbwegs renommierter Prostata-Spezialist, in dessen Gegenwart mir das bizarre
Ausstellungsstück geradezu rufschädigend vorkam. Er selbst sah das anders. Mit
merklichem Stolz breitete er aus, was er im Lauf der Jahre an Erkenntnissen
über Rasputins intimstes Organ zusammengetragen hatte. Wann immer auf dem Gang
Patienten an uns vorbeiliefen, wies Knjaskin sie stolz auf das historische
Fundstück hin, und obwohl die armen Männer sichtlich andere Sorgen hatten,
steckte er jeden mit seiner Begeisterung an. Sein Enthusiasmus war
beneidenswert.
    Knjaskin machte keinen Hehl daraus, dass die meisten seiner
Erkenntnisse auf Gerüchten basierten. Was sich aus Augenzeugenberichten über
Rasputins Gemächt zusammentragen ließ, war höchst widersprüchlich. Männer, die
den Prediger nackt in der Banja gesehen hatten, beschrieben sein Organ entweder
als monströs groß oder als bemitleidenswert klein, sei es aus Ehrfurcht oder
aus Neid. Durchweg überwältigt hatten sich dagegen seine tatsächlichen und
angeblichen Liebhaberinnen geäußert. Eine von ihnen wollte in den Armen des
Predigers von einem Orgasmus übermannt worden sein, der ihr das Bewusstsein
raubte. Andere schwärmten von einer großen, besonders glücklich platzierten
Warze, die jede Bettgenossin zur Raserei getrieben habe.
    Unwillkürlich warf ich einen prüfenden Blick auf das Einmachglas.
Knjaskin, der es bemerkte, schüttelte lächelnd den Kopf. »Nichts dergleichen.«
    Wieder andere hielten Rasputin für impotent. Man munkelte, er sei
nur deshalb besessen von weiblicher Aufmerksamkeit, weil er nie eine Frau
besessen habe. Man wisperte, er gehöre den Chlysten an, einer Sekte, die ihre
Gottesdienste mit erotischen Orgien feierte, wobei man Rasputin die Rolle des
unbeteiligten Eunuchenpriesters zuschrieb. Andere rechneten ihn den Skopzen zu,
deren Anhänger sich rituell kastrierten. Ein dubioser Arzt schließlich, der von
sich behauptete, Rasputin nach seiner Ermordung obduziert zu haben, beschrieb
das

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