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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Wir leben alle wie im Pionierlager.«
    Bis zum Abend saßen wir auf der Bank vor dem Haus, während die
länger werdenden Schatten der Bäume über den Waldboden wanderten. Als sie fast
genau nach Osten zeigten, offenbarte mir Gurzew seinen Traum.
    »Jedem ein Stück Land. Russland ist riesig, es ist genug für alle
da. Gebt den Menschen Land, befreit sie aus den Städten. Lasst sie arbeiten,
lasst sie leben.«
    Er hatte einen Plan entwickelt, einen Plan zur Rettung Russlands.
Alle, die es wollten, konnten leben wie er, als Selbstversorger, unabhängig von
der Außenwelt, es war nur eine Frage des Willens. Und des Wissens. Er, Gurzew,
würde den Menschen beibringen, was sie wissen mussten, um zu überleben. Sein
Haus im Wald war die Keimzelle einer Revolution.
    Fasziniert hörte ich ihm zu. Obwohl er von Solarzellen und Windkraft
sprach, war die Geschichte, die er erzählte, jahrhundertealt. Generationen
zivilisationsmüder Intellektueller hatten den gleichen Traum geträumt wie er –
den Traum von einer Rückkehr zu Russlands bäuerlichen, anarchischen Wurzeln.
Gurzew mochte ein Träumer des 21. Jahrhunderts sein, aber im Herzen war er ein
Schüler Tolstois. Selbst mit den Altgläubigen verband ihn eine direkte
Traditionslinie, obwohl er weder religiös noch technikfeindlich war. Was sie
einte, über alle offensichtlichen Unterschiede hinweg, war der Glaube an die
russische Erde.
    Während Gurzew noch sprach, verabschiedete ich mich innerlich von
Moskau. Mit seltsamer Dringlichkeit rief mir die Begegnung mit diesem urbanen
Einsiedler das Ziel meiner Reise ins Gedächtnis. Ich hatte plötzlich das
Gefühl, viel zu lange in Moskau geblieben zu sein, ich wollte los, nach
Sibirien. Gurzews Träume und die Schatten der Bäume wiesen mir die Richtung.
    Als wir uns verabschiedeten, gab Gurzew mir ein paar Telefonnummern
sibirischer Freunde mit auf den Weg. Die meisten von ihnen waren
Forstwissenschaftler, Waldmenschen, wie Gurzew selbst.
    »Wir Russen waren immer ein Waldvolk«, sagte er. »Immer.« Er
seufzte. »Wir vergessen es nur manchmal.«
     
    Die Maikäfer verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen
waren. Ihren Namen Lügen strafend, verausgabten sie sich an drei späten
Apriltagen. Die letzte Käferleiche sah ich in den rotierenden Bürsten einer
Kehrmaschine verschwinden, die die Innenstadt für die großen Umzüge säuberte.
Eine andere Spezies fiel nun über Moskau her, auch sie vorwiegend im Mai aktiv,
auch sie latent vom Aussterben bedroht: die Kommunisten.
    Am 1. Mai lag ein roter Schleier über der Stadt. Staunend stand ich
am Straßenrand und fragte mich, während die Maiparade an mir vorüberzog, wo
sich all diese Bataillone pensionierter Proletarier versteckten, wenn sie nicht
gerade Stalinplakate und Leninbanner durch die Stadt trugen. Ihre Prozession
hatte etwas Unwirkliches, Geisterhaftes, sie sah aus wie ein Beerdigungszug.
Feierlich trug die Revolution ihre Ikonen zu Grabe.
    Zwei oder drei der verwitterten Gesichter, die mir bei der Maiparade
auffielen, sah ich acht Tage später wieder, am Tag des Sieges. Wieder waren die
Straßen voller Kommunisten, diesmal aber gingen sie fast unter im allgemeinen
Siegestaumel, der 65 Jahre nach Hitlers Untergang noch immer ganz Russland elektrisierte.
Es war nicht die erste Siegesparade, die ich in Moskau miterlebte, und wieder
fiel mir auf, dass die Feiern mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Krieg
nicht kleiner, sondern größer wurden. Vielleicht, weil der 9. Mai inzwischen
der einzige Feiertag ist, auf den sich das ganze zerrissene Land einigen kann.
    Auf den Bürgersteigen lagen noch letzte rote Wimpel und
Siegesfähnchen, als ich Mitte Mai kreuz und quer durch Moskau fuhr und
Abschiedsbesuche machte. Eines Tages war es dann so weit. Während ich meine
Sachen packte, war in Wanjas Wohnung eine Party in vollem Gange. Ein paar der
Studenten entschieden spontan, mich zum Bahnhof zu bringen. Der Zug nach
Krasnojarsk stand schon auf dem Gleis, als wir ankamen.
    Mein Waggon war der vorletzte, ich hatte einen Platz in den billigen
Großraumabteilen gebucht. Wanja verstaute meinen Rucksack im Wageninneren, dann
leerten wir auf dem Bahnsteig eine letzte Flasche Sekt. Im grellen
Scheinwerferlicht blinzelten die Studenten wie verirrte Fledermäuse. Sie wirkten
deplatziert. Ihre strähnigen Frisuren, die geplante Planlosigkeit ihrer
Kleidung, ihr ganzer urbaner Lebensentwurf trennte sie von den vorbeihastenden
Passagieren der Platzkartenklasse. Mehr als ein

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