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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Anonymität, die ich aus den Berufspendlerzügen Westeuropas
kannte. Zwanzig Jahre noch, dachte ich, vielleicht dreißig, dann sieht ganz
Russland so aus.
    Den größten Teil der vierstündigen Fahrt über starrte ich einfach
nur aus dem Fenster, froh, in der Gegenwart zu leben. Das Land, das draußen
vorbeiflog, sah aus, als sei es in Eile.
    Auf halber Strecke tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte
mich um, aber da war niemand. Als ich mich wieder umdrehte, war das Gesicht
meiner Sitznachbarin kreideweiß. Mit einem hysterischen Finger zeigte sie auf
meine Schulter und schrie ein Wort, das ich nicht verstand, es klang wie:
»Maiskischuk! Maiskischuk!« Ich nestelte an meinem Hemd. Ein riesiges Insekt
flog auf und verschwand durch die offene Abteiltür. Meine Nachbarin seufzte
erleichtert.
    Zurück in Moskau, in Wanjas Wohnung, schlug ich im Wörterbuch nach.
Ich blätterte noch, als mich ein kratzendes Geräusch ablenkte. Irritiert hob
ich den Kopf. Direkt neben meinem Gesicht kroch ein fetter Maikäfer über die
Fensterscheibe.
    Am nächsten Tag sah ich sie überall. Orientierungslos krabbelten sie
durch Hausflure und U-Bahn-Unterführungen, sie verkrallten sich in den Haaren
panischer Fußgängerinnen, klebten zerdrückt an Windschutzscheiben oder fielen
einfach nur erschöpft vom Himmel.
    Ein besonders fettes Exemplar sah ich in Alexander Gurzews Suppe
schwimmen. Es strampelte mit allen sechs Beinen, verzweifelt bemüht, sich an
einen Rote-Bete-Würfel zu klammern. Gurzew zog den Käfer aus der Suppe und setzte
unbeeindruckt unser Gespräch fort. Er war der letzte Moskauer, der vor Insekten
Angst gehabt hätte.
    Wir löffelten unsere Suppe mitten im Wald. Gurzew war im Umkreis von
ein paar Kilometern der einzige Mensch, der hier lebte. Das alte Holzhaus, in
dem er sich einquartiert hatte, stand ein gutes Stück hinter dem Autobahnring,
versteckt zwischen dichten Kiefern und Birken. Erbaut hatte es im 19.
Jahrhundert die Akademie der Wissenschaften, als Waldforschungsinstitut. Bis
zum Ende der Sowjetzeit hatten hier Forstwissenschaftler gearbeitet, darunter
auch Gurzew. Gemeinsam mit seinen Kollegen hatte er die umliegenden Waldgebiete
studiert und in einem kleinen Garten hinter dem Institutsgebäude bedrohte
Pflanzenarten gepflegt, von denen einige seit dem 19. Jahrhundert als praktisch
ausgestorben galten.
    Dann, im Chaoskapitalismus der Nachwendezeit, waren der Akademie die
Mittel ausgegangen, um ihre Mitarbeiter zu bezahlen. Auch für den Unterhalt des
abgelegenen Forschungsinstituts war kein Geld mehr da. Das Haus verfiel. Im
Institutsgarten bauten ausgehungerte Forstwissenschaftler Gemüse an. Ein paar
der bedrohten Pflanzenarten mussten nach der ersten Kartoffelernte leider
endgültig aus der Roten Liste gestrichen werden.
    Gurzew blutete das Herz. Er hatte den größten Teil seines
Berufslebens in dem alten Waldinstitut verbracht, das nun vor seinen Augen
verfiel. Eines Tages beschloss er, zu retten, was zu retten war. Er packte
seinen Koffer, überließ seine Moskauer Stadtwohnung einem Freund und zog in den
Wald.
    Den bedrohten Pflanzen grub er ein neues Beet. Dann versetzte er das
Haus in den Zustand, in dem ich es kennenlernte. Von der ursprünglichen
Konstruktion waren nur die dicken Baumstämme übrig geblieben, aus denen die
Wände bestanden, den Rest hatte Gurzew komplett umgebaut. Das Dach war mit
Solarpaneelen bedeckt, den Kellerraum füllten riesige Sammelbatterien, im
Garten stand ein selbstgebautes Windkraftrad. Eigenhändig gegrabene Gänge
untertunnelten das Haus, Teil eines komplexen Heiz- und Lüftungssystems, das Gurzew
selbst entworfen hatte. Die Sonnenseiten des Gebäudes hatte er mit
Gewächshäusern eingefasst, in denen er ganzjährig Kartoffeln und Gemüse zog.
Was er an Lebensmitteln und Strom verbrauchte, produzierte er zum größten Teil
selbst, er lebte fast unabhängig von der Außenwelt.
    Lange saßen wir auf einer Bank vor dem Haus, nachdem Gurzew mir sein
Reich gezeigt hatte. Er war ein schweigsamer, konzentrierter Mittfünfziger,
dessen knappe Sätze in der Stille des Waldes wie Axtschläge klangen.
    »Vergiss Moskau. Kaputte Stadt. Saugt jeden aus.«
    Kennengelernt hatten wir uns durch einen gemeinsamen Bekannten aus
dem Umfeld von Vater Kirill, dem Priester aus Butowo. Gurzew war nicht
religiös, aber genau wie Vater Kirill hatte er auf dem Polygon von Butowo
seinen Großvater verloren.
    »Traurige Geschichte. War ein tapferer Mann. Sagt meine Mutter.«
    Der

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