Mein russisches Abenteuer
Großvater, ein Schachtarbeiter aus der Provinz, war lange vor
der Revolution zum Revolutionär geworden. Noch zu Zarenzeiten kämpfte er, ohne
sich einer Partei anzuschließen, für bessere Arbeitsbedingungen in seinem
Bergwerk. Als Streikführer wurde er verhaftet und nach Sibirien verbannt, wo er
seine spätere Frau kennenlernte, Gurzews Großmutter. Beide gingen gemeinsam
nach Moskau, als 1917 die politischen Häftlinge aus den zaristischen Lagern
entlassen wurden. Der Großvater war nicht mehr in revolutionärer Stimmung, als
er aus der Verbannung zurückkehrte, er hielt sich raus aus der Politik. Nur
manchmal traf er sich in Moskau mit einstigen Weggefährten aus Sibirien. Oft unterhielten
sie sich bei ihren Treffen über einen ehemaligen Leidensgenossen, dem einige
von ihnen in der Verbannung begegnet waren, einen Georgier namens Josif
Dschugaschwili. Sie wunderten sich über die steile Parteikarriere dieses
Mannes, den alle, die ihn kannten, als dumpf und talentlos in Erinnerung
hatten. Sie wunderten sich ein bisschen zu laut, denn als der »Große Terror«
kam, ließ Josif Dschugaschwili, inzwischen besser bekannt unter dem Kampfnamen
Stalin, ihre Reihen lichten. Gurzews Großvater wurde als »Linksabweichler«
verurteilt. 1937 erschoss man ihn, 1991 teilte man es seinen Nachkommen mit.
Für Gurzew, damals Mitte dreißig, war die Nachricht nur ein weiterer
Grund, Moskau zu hassen. Wer weiß, dachte er, vielleicht hätte der Großvater
überlebt, wenn er damals aus der Verbannung in die Provinz zurückgekehrt wäre,
statt in die Hauptstadt zu gehen. Vielleicht wäre dann auch sein Enkel anderswo
aufgewachsen, nicht in diesem kaputten Moloch, der nach dem Ende der
Sowjetunion immer größer und voller und kaputter wurde. Als Gurzew in den Wald
zog, war es nur zum Teil die Sorge um die bedrohten Pflanzen, die ihn antrieb.
In erster Linie war er froh, Moskau den Rücken kehren zu können.
»Die Stadt zehrt das ganze Land aus«, sagte er düster. »Ganz
Sibirien existiert nur, damit die Hauptstadt existieren kann. Rohstoffe,
Lebensmittel, Energie, Menschen, alles wird von Moskau aufgesaugt. Dabei steht
die Stadt am Rand des Zusammenbruchs. Der Verkehr! Millionen von Autos stehen
Tag für Tag bewegungslos im Stau, mit laufendem Motor, stundenlang. Es ist, als
würde man das ganze Benzin nur importieren, um es in Moskau auf die Straße zu
kippen und zu verbrennen.«
Hier, im Wald, war die Stadt unsichtbar, obwohl sie so nah war.
Nicht einmal der Autobahnring war zu hören. Vollkommene Stille umgab uns,
durchbrochen allein von den hektischen Koloraturen einer Nachtigall.
Trotzdem blieb Gurzew angewiesen auf die Stadt, die er hasste. Die
Umbauten am Haus hatte er mit einem Nebenjob finanziert, von dem er mir nur
zögernd erzählte. Ein paar Kilometer weiter südlich durchzog eine breite
Ausfallstraße den Wald, die berühmte Rubljowka, an deren Rändern die Villen der
Moskauer Superreichen stehen. Alexander hütete ihre Bäume. In den Gärten der
Millionäre beschnitt er Obstplantagen, er schützte Kiefern vor Käferbefall, er
beriet Oligarchen, die sich libanesische Zedern für ihr Grundstück wünschten
oder kanadischen Ahorn.
Eine seiner Kundinnen besuchte ihn im Lauf des Nachmittags. Ein
weinroter Jeep hielt vor dem Haus. Instinktiv erwartete ich eine operierte
Oligarchenbraut und war unsinnig überrascht, als eine dezent gekleidete, nicht
unsympathische Frau um die vierzig aus dem Auto stieg. Sie begrüßte Gurzew
herzlich, wie einen lange verschollenen Freund. Dann zog sie ein gerolltes Geldbündel
aus der Handtasche und blätterte ungerührt zweihundert Dollar für einen Eimer
Insektenschutzmittel hin.
»Schööön hast du es hier, Alexander«, hauchte sie. Ihr Blick
schweifte durch die Baumkronen. »Aber ist es nicht furchtbar einsam? Man kann
dich ja kaum besuchen! Die Waldwege sind sooo schlecht, ich habe extra das
groooße Auto genommen.«
Als ihr wahrlich großes Auto zwischen den Bäumen verschwunden war,
sah Gurzew mich kopfschüttelnd an. »Weißt du, was seltsam ist an unseren
russischen Millionären? Ihre Villen sind riesig, ihre Grundstücke winzig. In
Amerika bauen sich die Reichen ein neues Haus, wenn sie am Horizont den
Kaminrauch ihres Nachbarn sehen können. Und hier? Die Rubljowka sieht aus wie
eine Datschensiedlung: ein Haus neben dem anderen, getrennt von meterhohen
Mauern. Russland ist das größte Land der Welt, aber niemand traut sich, den
Raum zu nutzen, nicht einmal die Reichen.
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