Mein russisches Abenteuer
chakassischen
Bevölkerung.
Die Wirklichkeit sah anders aus. Gajdar gelang es nicht, den
Kosakenhauptmann auszuschalten. Solowjow stellte sich 1924 freiwillig der Roten
Armee und wurde hingerichtet. Gajdar war zu dem Zeitpunkt längst aus Chakassien
abkommandiert worden. Bei den Behörden hatten sich Beschwerden gehäuft, die
Rede war von Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung, von Plünderungen, von
Gewaltexzessen. Eine eigens eingesetzte Untersuchungskommission befand trocken,
Gajdars Vorgehen lasse »Operativität« vermissen, und empfahl, den
achtzehnjährigen Kommandeur hinzurichten. Er wurde vor ein Militärgericht
gestellt, man warf ihm illegale Erschießungen vor. Gajdar räumte sie ein,
erklärte aber, die Opfer seien »Banditen« gewesen, bei deren Hinrichtung er
lediglich »gesetzliche Formalitäten« vernachlässigt habe. Man sprach ihn
schuldig. Das Urteil fiel milde aus: Entlassung aus dem Dienst, verbunden mit
dem Verbot, verantwortliche Posten zu bekleiden.
Es folgten: Parteirügen, Nervenzusammenbrüche, Heilanstalten,
Kinderbücher.
Die schriftstellerische Karriere begann mit einem Namenswechsel: Aus
Arkadij Golikow wurde Arkadij Gajdar. Das Pseudonym ist kein russisches Wort,
sondern ein chakassisches, es bedeutet: Wohin? Der Legende nach war es das
einzige chakassische Wort, das der rote Kommissar kannte. »Gajdar?«, soll er
geschrien haben, wenn er durch die chakassischen Dörfer ritt. »Gajdar
Solowjow?« Wohin ist Solowjow? Unter den Chakassen sprach sich bald herum, dass
der Schlachtruf nichts Gutes bedeutete. Panik brach aus, sobald sich der
Kommissar ihren Dörfern näherte. »Wohin!«, schrien die Chakassen. »Da kommt
Wohin!«
Gajdar gefiel der Spitzname. Alle seine Kinderbücher erschienen
unter dem chakassischen Pseudonym, unter dem er berühmt wurde. So berühmt, dass
in den Dreißigerjahren diskutiert wurde, ihn als Parteimitglied zu
rehabilitieren. Stalin, ansonsten nicht zimperlich im Umgang mit Russlands
Minderheiten, sprach sich dagegen aus: »Ich kann ihm verzeihen. Aber können die
Chakassen ihm verzeihen?«
Aus einem chakassischen Volkslied:
Die Erde der Väter blühte gelb
Das Ufer des Jus lag da wie Seide
Einst war es von Liedern erfüllt
Bevor du es mit Tränen überschüttet hast
– Golikow!
Alt und Jung liegen auf deinem Weg
Mit Kugeln und Feuer wird mein Volk
ausgelöscht
Erreichen
dich seine Verwünschungen nicht?
Du schwarze Seele – Arkaschka!
Ein chakassischer Historiker in Abakan riet mir, nicht alle
Horrorgeschichten über Gajdar ernst zu nehmen. »Er hat Blut an den Händen, das
ist sicher. Aber manche Chakassen machen ihn für alles verantwortlich, was
unseren Vorfahren je von den Russen angetan wurde.« Der Historiker seufzte. »Es
ist ein Kreuz mit unserer Geschichte. Unter meinen Landsleuten gibt es bis
heute Menschen, die von einem eigenen Staat träumen, einem unabhängigen
Chakassien.«
Kopfschüttelnd beugte er sich über den Tisch und schrieb zwei große
Ziffern in meinen Notizblock, eine 1, gefolgt von einer 2.
»Zwölf Prozent. Wir stellen zwölf Prozent der Bevölkerung von
Chakassien. Von was für einer Unabhängigkeit reden wir?«
In der Bibliothek von Bolschije Arbaty, einem
ausschließlich von Chakassen bewohnten Dorf südlich von Abakan, entdeckte ich
zwischen russischen Übersetzungen chakassischer Epen und chakassischen
Übersetzungen der Bibel eine Ausgabe von »Timur und sein Trupp«.
Tatjana Antipowna verstand meine Überraschung nicht. »Es ist ein
gutes, liebes Buch. Was kann ein Buch für seinen Autor?«
Sie war eine stille Mittvierzigerin, deren Stimme durch Charisma
wettmachte, was ihr an Lautstärke fehlte. Wir hatten uns in der Dorfschule
kennengelernt, wo Tatjana als Lehrerin arbeitete. Zusammen mit drei anderen
Chakassinnen tranken wir Tee. Valentina war ebenfalls Lehrerin, Nadeschda und
Stepanida arbeiteten in der Bibliothek.
In einer Schreibtischschublade, unter dem Zettelkasten mit den
Ausleihscheinen, verwahrten die vier Frauen ein unscheinbares Blatt Papier.
Handschriftlich waren 37 chakassische Namen aufgelistet. »Es hat Jahre
gedauert«, sagte Tatjana, »bis wir die Namen aller Opfer zusammen hatten.«
Das Massaker lag in jenem Sommer genau neunzig Jahre zurück. 1920,
im Bürgerkrieg, war ein Trupp Russen in Bolschije Arbaty aufgetaucht. Sie
ließen alle männlichen Einwohner am Rand des Dorfbrunnens antreten und
erschossen sie, einen nach dem anderen. Die Leichen warfen sie in den
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