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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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der bösen Hexe Ku und ihrem Gehilfen
Alyp-Chartaka in die Hände fällt. Später, als ich in Abakan eine russische
Übersetzung der Sage fand, übertrug ich die Verse ins Deutsche.
     
    Alyp-Chartaka zückt sein Schwert
    Und sechs Mal dreht er das Eisen.
    Alyp-Chartaka
zückt sein Schwert
    Und sechs Mal lässt er es kreisen.
    Sein Schwert ist breit, wie der Mond so
breit,
    Drei Pud wiegt sein Schwert, er hält es
bereit
    Und packt den Säugling mit grausamem
Lachen
    Und wirft ihn auf einen Stein, einen
flachen.
    Dann nimmt er die Klinge, er lässt sie
blitzen
    Und beginnt, den Säugling zu schneiden,
zu schlitzen.
    Er quält ihn mit Lust, er foltert ihn
lang
    Und klagend ruft ihn der Säugling an:
    Oh, Alyp-Chartaka, was peinigst du mich?
    Töte mich schneller, erbarme dich!
    Mein rotes Blut, lass es schneller
entrinnen,
    Meine weiße Seele lass schneller
entspringen.
    Da lacht Alyp-Chartaka, und die Hexe Ku
lacht –
    Dem Sohn Alyp-Khans ist ein Ende gemacht.
     
    Draußen sank die Abendsonne. Ein langer, schmaler Schatten
zog sich quer über den staubigen Dorfplatz, er endete genau vor dem Eingang der
Bibliothek. Wo er begann, etwa hundert Meter entfernt, ragte eine steinerne
Stele in den Himmel.
    Stumm näherten wir uns dem verschütteten Dorfbrunnen. Brennesseln
überwucherten das Gelände. Die Stele hatten die Frauen erst vor wenigen Jahren
hier aufstellen lassen, als Grabstein für die Opfer des Massakers. Tatjana
erzählte, dass zur Einweihung ein Schamane nach Bolschije Arbaty gekommen war,
der die Geister der Verstorbenen um Verzeihung bat.
    »Es gibt noch Schamanen?«, fragte ich erstaunt.
    »Ja«, antworteten drei Stimmen gleichzeitig.
    »Nein«, antwortete die vierte Stimme. Es war Stepanida, die älteste
der Frauen. »Schamanen gibt es schon lange nicht mehr.«
    »Aber es war doch einer hier«, sagte Nadeschda.
    Stepanida lächelte müde. »Der nennt sich bloß Schamane. Die echten
Schamanen sind alle längst tot.«
     
    Ein paar Tage lang fuhr ich kreuz und quer durch
Chakassien, auf der Suche nach Schamanen. Unterwegs sah ich überall
Steinstelen. Wie Schwerter ragten sie aus der Steppe, einsame Landmarken in
uferloser Leere, Jahrhunderte, teils Jahrtausende alt. Manchmal standen sie
mitten auf Äckern. Offenbar hatten es nicht einmal die sowjetischen Bulldozer
gewagt, die alten Grabmale der Steppenvölker einzuebnen.
    Nicht nur die Steine hatten überlebt. Auch die alten animistischen
Bräuche kehrten zurück. An den Straßenrändern traf ich manchmal chakassische
Familien, die bunte Bänder an den Stelen aufhängten oder kleine Opfergaben
hinterließen: einen Geldschein, einen Schokoriegel, einen abgenagten
Hühnerknochen, ein Glas Schnaps. »Unsere Ahnen haben es so gemacht«, erklärten
sie mir. »Den Geistern gefällt es so.« Sie lachten verlegen, als seien sie
selbst nicht ganz sicher, ob die alte Magie nach all den Jahren noch wirkte, ob
die Geister nicht längst aus der Steppe verschwunden waren, weil zu viel Blut
das Gras getränkt hatte.
    Ich musste an »Altyn-Tschjus« denken, die chakassische Sage, aus der
mir die Frauen in Bolschije Arbaty vorgelesen hatten. Chakassien kam mir vor
wie das verwaiste Märchenreich aus der Erzählung, das keinen Herrscher mehr
hat, weil das einzige Kind des Königs erschlagen wurde. Feinde überrennen das
Reich und verwüsten es, bis nichts mehr an seine einstigen Bewohner erinnert –
nichts außer dem Gesang eines Steppenvogels.
     
    Er
neigt sich gen Westen und weint sein Lied,
    Er neigt sich gen Osten und klagt sein
Lied
    Und stets klingt es gleich,
unveränderlich:
    Der einzige Sohn Alyp-Khans war ich.
    Meine Mörder sind Alyp-Chartaka und Ku –
    Dort drüben am Ufer schlugen sie zu.
    Sie ließen mein Blut in die Erde fließen,
    Ein Baum begann aus der Erde zu sprießen.
    Ein Kuckuck sitzt nun in den dichten
Zweigen,
    Der hat meine Stimme und klagt diesen
Reigen.
     
    Meine Suche nach Schamanen blieb erfolglos. Ich fand nur
zwielichtige Wunderheiler und Folkloremusiker, die mir Kräutertränke und
Schamanentrommeln verkaufen wollten.
    »Gib es auf«, riet mir eine Chakassin in Abakan. »Es gibt keine
Schamanen mehr. Die Russen haben sie alle umgebracht, aus Angst vor ihrer
Magie. Sie waren mächtig, unsere Schamanen. Was glaubst du, warum Gajdar
verrückt geworden ist? Die Schamanen haben seine Seele krank gemacht, damit er
aus Chakassien verschwindet.«
    Am Ende fand ich doch noch einen Schamanen – in den Schlussversen
von »Altyn-Tschjus«. Wie

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