Mein russisches Abenteuer
erinnern.
»Ich bin mit ihr verwandt«, sagte der Vollbärtige.
»Höre ich zum ersten Mal«, meinte der Bartlose.
»Du bist doch selbst mit ihr verwandt.«
»Quatsch.«
»Doch. Ihr Vater war ein Onkel deines … nein, warte, ein Großonkel …«
Eine Viertelstunde lang versuchten sie, das
Verwandtschaftsverhältnis aufzudröseln. Am Ende stellten sie resigniert fest,
dass in Kilinsk fast jeder mit jedem verwandt war. Der Bartlose und der
Kinnbart seufzten. Sie waren unverheiratet. Die Chancen, in Kilinsk ein
altgläubiges Mädchen zu finden, mit dem sie nicht blutsverwandt waren, gingen
gegen Null.
Wohin, Arkaschka?
Die telefonischen Wasserstandsmeldungen von Galina
Alexandrowna wurden langsam zur Routine. Als ich in Taschtagol ankam, zeigte
mein Handy einen verpassten Anruf an – in der Taiga hatte ich keinen Empfang
gehabt. Ich rief Galina zurück. Der Fluss war immer noch nicht schiffbar.
Ohne konkreten Plan fuhr ich zurück nach Abakan, die Hauptstadt der
Republik Chakassien. Unterwegs, im Nachtzug, las ich ein altes Kinderbuch, das
mir in Moskau ein Bekannter mit auf den Weg gegeben hatte: »Timur und sein
Trupp«, von Arkadij Gajdar.
»Gutes Buch«, sagte mein Abteilnachbar. »Aber Gajdar war kein guter
Mensch.«
Der Mann war um die sechzig und erkennbar kein Russe. Aus seinen
vage mongolischen Gesichtszügen reimte ich mir zusammen, dass er zu einer der
turksprachigen Minderheiten Sibiriens gehören musste, vermutlich zu den
Chakassen, den Ureinwohnern der Region.
»Warum war er kein guter Mensch?«
»Er hat gegen mein Volk gekämpft. Er war ein Feind der Chakassen.«
Ich hatte gehört, dass Gajdar im Bürgerkrieg in Chakassien gewesen
war – mein Bekannter aus Moskau hatte es erwähnt, als er mir das Buch mitgab.
Aber mehr wusste ich nicht.
»Es gibt ein Dorf, nördlich von Abakan, in der Steppe«, sagte mein
Abteilnachbar. »Soljono-Osjornoje. Fahr hin, da wird man dir alles erzählen.«
Als wir in Abakan ankamen, hatte ich »Timur und sein
Trupp« durchgelesen. Es ist kein langes Buch, die Geschichte ist simpel: In
Russland wütet ein namenloser Krieg. Alle Männer sind an der Front. Auch ein
vierzehnjähriger Junge namens Timur würde gerne das Vaterland verteidigen, aber
er ist zu jung. Statt zu kämpfen, verbringt er den Sommer in einer
Datschensiedlung bei Moskau. Zusammen mit ein paar Freunden gründet er einen
Geheimbund, der den alleinstehenden Frauen in der Siedlung mit heimlichen
Hilfsaktionen den Alltag erleichtert.
Das Buch erschien 1940, kurz vor dem Ausbruch jenes großen Krieges,
den Gajdar in »Timur und sein Trupp« vorwegnahm. Als der Krieg Wirklichkeit
wurde, waren Timurs Abenteuer bereits so populär, dass sie ebenfalls wahr
wurden. Überall im sowjetischen Hinterland formierten sich Kinderkommandos, die
mit freiwilligen Arbeitseinsätzen die Bevölkerung unterstützten. Die
»Timur-Bewegung« war geboren. Als organisierter Bestandteil der sowjetischen
Jugendorganisationen überdauerte sie den Krieg. Timur stieg zum Modellkind des
Sozialismus auf: ein selbstloser Held, dessen jugendliche Energie dem
Gemeinwohl verpflichtet ist.
Noch lange nach dem Krieg gehörte das Buch zur Pflichtlektüre in den
Schulen des Ostblocks. Ich selbst las es im Zug zum ersten Mal, aber den Titel
kannte ich aus Erzählungen gleichaltriger Berliner Freunde. Sie hatten »Timur
und sein Trupp« als Schüler in der DDR gelesen –
ungefähr zur gleichen Zeit, als ich ein paar hundert Kilometer weiter westlich
damit beschäftigt war, das russische Loch in meinem Kinderpuzzle zu füllen.
Die autonome Republik Chakassien ist eins der kleineren
Puzzleteile im Gefüge der Russischen Föderation. Sie ist etwas größer als
Belgien, hat aber weniger Einwohner als Luxemburg. Dichte Taiga bedeckt den südlichen,
nahezu unbewohnten Teil der Region. Ganz im Süden, in den Ausläufern des
Sajan-Gebirges, entspringt der Fluss Abakan, über dessen Pegelstand mich in
regelmäßigen Abständen Galina Alexandrowna informierte. Der Strom durchquert
halb Chakassien, bevor er in der Gebietshauptstadt Abakan in den Jenisej
mündet. Irgendwo an seinen Ufern, tief in der Taiga, steht die Hütte, in der
Agafja Lykowa lebt.
Das Dorf Soljono-Osjornoje, von dem mir der Chakasse im Zug
erzählte, liegt im nördlichen, dichter besiedelten Teil der Republik. Von
Abakan aus nahm ich einen Kleinbus, der zwei Stunden lang durch die offene
Steppe rumpelte. Unterwegs las ich eine Gajdar-Biografie, die ich in
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