Mein russisches Abenteuer
Augenblicken die Flasche an den Mund zu reißen und hastig wieder
verschwinden zu lassen. Ein paar Mal ging es gut, dann bremste der Fahrer
erneut.
»Letzte Warnung.«
Das Spiel wiederholte sich. Als der Fahrer zum dritten Mal bremste,
war seine Stimme tonlos. »Junger Mann«, sagte er. »Sie steigen hier aus.«
Keine Reaktion.
»Junger Mann!«
Nichts.
Eine Hand rüttelte an meiner Schulter. Ich drehte mich um. Es war
der Fahrer. »Junger Mann!«, rief er. »Sie wollten nach Soljono-Osjornoje. Wir
sind da.«
Ich dankte und stieg aus – weshalb ich leider nie erfuhr, wie der
Streit ausging.
Soljono-Osjornoje bedeutet »Salzsee«. Von der Bushaltestelle aus war
weit und breit kein See zu sehen. Ein paar hundert Holzhäuser standen dicht
gedrängt in der Steppe, umgeben von kilometerweitem Nichts.
Das Erste, was ich in Soljono-Osjornoje sah, war eine Leiche. Der
Mann lag reglos am Wegrand, mitten in einer Pfütze. Unschlüssig blieb ich neben
ihm stehen. Eine alte Frau kam den Weg entlanggelaufen. Im Vorbeigehen trat sie
dem Toten mit voller Wucht in den Hintern.
»Hundesohn! Steh auf!«
Die Leiche stöhnte, stand auf und torkelte ihrer Wege.
Ich fragte die alte Frau nach Gajdar. Sie überlegte einen Moment.
»Sprich mit den Koschuchowskijs«, sagte sie. Mit vagen Handbewegungen erklärte
sie mir den Weg.
Das Dorf bestand aus drei lang gezogenen Straßen. Die mittlere hieß
»Uliza Gajdara«. Am Haus mit der Nummer 20 hing eine Gedenktafel: »In diesem
Haus lebte 1922 der Schriftsteller A. Gajdar, Kämpfer für die Sowjetmacht in
Chakassien.«
Ich fand Polina und Georgij Koschuchowskij in einem alten Holzhaus
am südlichen Dorfrand. Erst hielt ich die beiden für Geschwister, aber nach ein
paar Minuten begriff ich, dass sie zu den Ehepaaren gehörten, die sich im Alter
immer ähnlicher werden.
Georgijs Großmutter Agrafena hatte im Bürgerkrieg als Haushälterin
im roten Stabsquartier gearbeitet. Sie hatte Gajdar die Wäsche gewaschen und
für ihn gekocht.
»Alle im Dorf nannten sie die rote Grunja«, erzählte Georgij.
»Weil sie Kommunistin war?«
»Nein. Weil sie sich bis ins hohe Alter die Lippen anmalte.«
»Hat sie von Gajdar erzählt?«
Georgij zögerte.
»Sie hat ihn vergöttert«, mischte sich Polina ein. »So ein
Goldjunge, hat sie immer gesagt, so ein guter, so ein hübscher.«
Georgij schwieg.
»Nun erzähl schon!«, sagte Polina. »Gajdar hat Sünden begangen. Die
Chakassen haben ihn gehasst. Sag schon, was die rote Grunja erzählt hat!«
»Das geht doch nicht«, sagte Georgij. »Das ist doch politisch.«
»Angsthase!«
Etwas später tauchte Georgijs Sohn Alexej auf. Er führte mich zum
Dorffriedhof, um mir ein Grabkreuz zu zeigen, das Kosaken aus der Umgebung vor
ein paar Jahren für Gajdars Widersacher Solowjow aufgestellt hatten. Der
Kosakenhauptmann war in Soljono-Osjornoje zur Welt gekommen. Lange hatte das
Dorf seinen berühmten Sohn verschwiegen – zu Sowjetzeiten galt Solowjow als
Krimineller, als konterrevolutionärer Kriegstreiber, als Unperson. Jetzt stand
sein Grabkreuz weithin sichtbar in der Steppe.
»Liegt die rote Grunja auch hier begraben?«, fragte ich Alexej.
Er schüttelte den Kopf. »Sie hat ihre letzten Jahre in einem
Altersheim in Abakan verbracht. Dort wurde sie auch beerdigt. Ich war noch
klein, als sie starb, ich erinnere mich kaum an sie. Die Geschichte mit dem
Säbel hat Vater erzählt?«
Eine vage Handbewegung reichte ihm als Antwort.
»Die rote Grunja hat ständig darüber gesprochen. Gajdar hatte einen
zwölfjährigen Jungen als Geisel genommen. Einen Chakassen. Seine Verwandten
kämpften angeblich für Solowjow. Gajdar stellte ihnen ein Ultimatum. Als es
ablief, schlug er dem Jungen den Kopf ab. Mit einem Säbel.«
Der Steppenwind trieb Staub über den Friedhof. Eine Plastiktüte
blieb an Solowjows Grabkreuz hängen, löste sich, taumelte weiter.
Undatierter Eintrag aus Arkadij Gajdars Tagebuch: Traum nach Schema
Nr. 2 … Mir erschienen Menschen, die ich in meiner Kindheit getötet habe.
Ganze zweieinhalb Monate diente Gajdar in Chakassien. Es
reichte, um ihn zur Hassfigur der örtlichen Bevölkerung zu machen – und zum
Helden der sowjetischen Propaganda. In den Sechzigerjahren, lange nach seinem
Tod, wurde ein Film über seine Jagd auf Solowjow gedreht: »Das Ende des
Imperators der Taiga«. Der rote Kommissar Gajdar bringt darin eigenhändig den
weißen Ataman Solowjow zur Strecke, unter dem Jubel der
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