Mein russisches Abenteuer
Brunnen.
Mit einer Handgranate brachten sie den Schacht zum Einsturz, dann verschwanden
sie.
Als Tatjana und ihre Kolleginnen vor zwanzig Jahren angefangen
hatten, die Namen der Opfer zu dokumentieren, waren alle Zeugen des Massakers
längst tot. Niemand erinnerte sich mehr persönlich an die Ereignisse des
Bürgerkriegs, über die in Bolschije Arbaty siebzig Jahre lang nur hinter
vorgehaltener Hand gesprochen worden war. Noch immer wusste niemand im Dorf,
wer das Blutbad angerichtet hatte. Gajdar kann es nicht gewesen sein – er traf
erst ein Jahr später in Chakassien ein. Tatjana und ihre Kolleginnen waren
nicht einmal sicher, ob die Morde von Rotgardisten verübt worden waren oder von
den konterrevolutionären Truppen der Gegenseite.
»Wir werden es nie herausfinden«, sagte Tatjana. »Wenn man die alten
Leute im Dorf fragt, sagen sie nur: Es waren Russen. So haben es ihnen ihre
Eltern erzählt. Rot oder weiß, diesen Unterschied begriff damals kaum jemand
hier. Für die einfachen Menschen in den Dörfern war ein Russe einfach nur ein Chasach – ein Kosake. Ein anderes Wort gab es in unserer Sprache nicht. Man nahm die
Russen immer noch als die Eroberer des 17. Jahrhunderts wahr.«
Tatjana verstummte, als sei ihr der bittere Beiklang ihrer Worte
plötzlich unangenehm. Sie trug den Russen nichts nach, weder den Kosaken noch
den Kommunisten. »Chakassien war kein Paradies, bevor die Russen kamen«, sagte
sie. »Meine Großeltern haben in Jurten gelebt, meine Eltern konnten weder lesen
noch schreiben. Wer weiß, ob ich heute Lehrerin wäre, wenn alles anders
gekommen wäre. Wer weiß, ob es hier überhaupt eine Schule gäbe.«
Erst die Revolution hatte die Chakassen abrupt in eine Welt
hineingerissen, mit der sie wenig verbunden hatte, solange sie Untertanen eines
fernen Zaren gewesen waren, oberflächlich christianisiert, innerlich der
schamanistischen Geisterwelt ihrer Vorfahren treu. Noch Tatjanas Vater hatte
kaum ein Wort Russisch gesprochen – erst im Zweiten Weltkrieg hatte man ihm an
der Front die wichtigsten Kommandos eingebläut. Jetzt hing sein Foto in der
Dorfschule an der Veteranentafel, mit einem schwarzen Band in der linken oberen
Ecke.
»Wenn Ihr Vater kaum Russisch sprach«, fragte ich, »warum hat er Sie
dann Tatjana genannt?«
Die Frage beschäftigte mich seit Stunden. Die Frau, die vor mir saß,
sah aus wie eine Tochter Dschingis Khans, aber sie hieß wie die Heldin eines
Puschkin-Romans.
Vierfaches Lachen war die Antwort. Tatjana lachte, Valentina lachte,
Nadeschda lachte, Stepanida lachte. »Glauben Sie, unsere Eltern haben sich die
Namen ausgesucht?« Tatjana schüttelte den Kopf. »Es gab keine anderen. Wer
seinem Baby einen chakassischen Namen geben wollte, bekam im Krankenhaus zu
hören: Der steht nicht auf unserer Liste – suchen Sie sich einen anderen aus.«
In den ersten Jahrzehnten nach der Revolution hatten die meisten
Chakassen zwei Namen getragen, wie sie vor der Revolution zwei Religionen
praktiziert hatten – nach außen die russischen, insgeheim ihre eigenen. Beides
hatten sie sich irgendwann abgewöhnt. Von den vier Frauen in der Bibliothek
hatte nur Stepanida, die ein gutes Jahrzehnt älter war als ihre Kolleginnen,
einen chakassischen Zweitnamen: Uluch Rod.
»Er bedeutet: Werde groß. Ich war winzig, als ich zur Welt kam, ich
wurde zwei Monate zu früh geboren.« Sie lächelte. »Der Name hat mich gerettet.«
Erst in der Generation ihrer Kinder kamen chakassische Namen langsam
wieder in Mode. Auch ihre eigene Sprache verwendeten die Chakassen erst seit
dem sowjetischen Untergang wieder öffentlich, was sie vorher vermieden hatten,
weil der sowjetische Mensch es nicht schätzte, wenn sowjetische Mitmenschen
sich unsowjetisch ausdrückten.
Als ich die Frauen bat, ein paar Sätze Chakassisch zu sprechen, zog
Nadeschda ein Buch aus einem der Bibliotheksregale. Es war eine alte
chakassische Sage namens »Altyn-Tschjus«. Nadeschda öffnete das Buch an einer zufälligen
Stelle und begann zu lesen. Die Verse waren stark rhythmisiert, und obwohl ich
nichts verstand, hörte ich die Reime in den turksprachigen Wortendungen. Nach
ein paar Zeilen verstummte Nadeschda abrupt. Eine merkwürdige Stille hing
plötzlich in der Bibliothek. »Vielleicht ist das nicht die beste Stelle«, sagte
Tatjana.
Was sie meinte, begriff ich erst, als die Frauen mir die Verse ins
Russische übersetzten. Sie erzählten von einem Säugling, dem einzigen Kind
eines Steppenkönigs, das eines Tages
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