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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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aus dem Nichts taucht er auf, um dem verlorenen
Steppenreich nach Jahrhunderten der Not seinen Herrscher zurückzugeben.
     
    Die kindlichen Knöchelchen sammelt er
ein,
    Kaum eine Handvoll, ganz zart, ganz
klein,
    Dann nimmt er, wobei er Beschwörungen
spricht,
    Aus dem Mantel den Kuckuck, er zieht ihn
ans Licht
    Und reißt aus dem Schwanz seines Pferdes
sodann
    Drei Haare und knüpft sie dem Kuckuck an
    Und windet und wickelt die Haare, die
drei,
    Drei Mal um den Kuckuck, raunt Worte
dabei
    Und bettet den Kuckuck, den dreifach umwundnen,
    Zwischen die Knochen, die grausam
geschundnen,
    Brennt Heilkräuter an, den Rauch bläst er
knisternd
    Auf Kuckuck und Knochen, Beschwörungen
flüsternd.
    Und das Blut, das einst in die Erde
entrann,
    Rinnt zurück in den kindlichen Körper,
    Und die Seele, die einst in den Himmel
entsprang,
    Springt zurück in den kindlichen Körper.
    Und der Säugling belebt sich, sein Leib
erbebt,
    Streckt die Glieder, erhebt sich, er
atmet – er lebt!

Blut und Wodka
    Der nächste Anruf von Galina Alexandrowna brachte die Wende.
Der Flusspegel sank. Die Linguistin bat mich, nach Abasa zu fahren, eine
Kleinstadt im Süden Chakassiens, am Rand der Taiga. Dort lebte der Mann, der
versprochen hatte, uns zu Agafja zu bringen.
    Auf der Fahrt wechselte die Landschaft drastisch. Kurz hinter Abakan
bekam die Steppe Gänsehaut, winzige Hügel wellten das Gras. Nach Süden hin
wurden sie höher und höher, bis die überdehnte Wiesendecke schließlich aufriss
und erste Felswände freilegte. Versprengte Formationen aus Birken und Kiefern
marschierten über die Hügelkuppen, Spähtrupps einer Armee, die sich in den
Ausläufern des Sajan-Gebirges verdichtete, bis hinter einem Bergkamm plötzlich
die Taiga vor mir lag, ein hölzernes, bis an den Horizont postiertes Heer. In
schwindligen Serpentinen rollte der Bus hinab in die Talebene von Abasa,
Chakassiens letztem Vorposten vor der Wildnis.
    San Sanytsch holte mich am Busbahnhof ab. Er war Mitte vierzig, ein
Mann mit kleinen, schnellen Augen, in deren Winkeln ein sarkastisches
Dauerlächeln spielte. Er warf meinen Rucksack in den Kofferraum eines
Geländewagens und zeigte mir das Stadtzentrum, das aus ein paar Dutzend
Plattenbauten bestand. Dahinter sah Abasa aus wie eine Datschenkolonie:
niedrige Holzhäuser, eingefasst von Gemüsegärten. Wir bogen in einen unbefestigten
Weg ab, der am Waldrand endete. San Sanytschs Haus war das letzte in der Reihe.
    »Komplett selbst gebaut«, sagte er stolz. Wie zum Beweis zeigte er
mir seine linke Hand, an der der Zeigefinger fehlte.
    San Sanytsch war Lehrer. An Abasas einziger Schule unterrichtete er
ein Fach mit dem kuriosen Namen »Grundlagen sicherer Lebensführung«. Er brachte
russischen Schülern bei, wie man sich vor russischen Gefahren schützt:
Alkoholvergiftungen, Terroranschläge, Geschlechtskrankheiten, Nuklearunfälle,
wilde Tiere. Um sein Lehrergehalt aufzubessern, vermietete er das Dachgeschoss
seines Hauses an Urlauber, die zum Angeln oder Jagen nach Abasa kamen. Wenn es
sich ergab, organisierte er Bootstouren, Bergwanderungen, Taiga-Expeditionen.
    San Sanytsch hieß eigentlich Alexander Alexandrowitsch, aber wie
viele Alexander Alexandrowitschs kürzte er seinen Vor- und Vatersnamen ab.
Schon San Sanytschs Vater hatte San Sanytsch geheißen, ebenso sein Großvater.
Weiter reichte das Familiengedächtnis leider nicht zurück, weil der Großvater
früh umgekommen war – er hatte versucht, eine Kirche vor der Zerstörung durch
die Bolschewiken zu retten, was die Bolschewiken ihm sehr übel genommen hatten.
Die jung verwitwete Frau des Großvaters, die einen verwaisten Sohn
durchzubringen hatte, ließ sich in ihrer Not zur Atheismus-Agitatorin
ausbilden. Bis ans Ende ihres Lebens brachte sie Schülern und Kolchosenbauern
bei, dass der Gott, für den ihr Mann gestorben war, nicht existierte.
    In den zwei Wochen, die ich in San Sanytschs Haus verbrachte, hörte
ich die Großeltern-Geschichte mehr als einmal. Beim ersten Mal fand ich sie
berührend. Beim zweiten und dritten Mal fand ich sie immer noch traurig. Ab dem
vierten Mal nutzte sich der Effekt ab, und beim zehnten Mal begann ich zu
verstehen, warum San Sanytschs Frau Natascha meist das Zimmer verließ, wenn ihr
Mann ins Reden kam. Noch bei der hundertsten Wiederholung erzählte er seine
Geschichten mit einem Gesichtsausdruck, der unbedingte Aufmerksamkeit und
Applaus für jede Pointe forderte.
    Im Nachhinein begreife ich kaum noch, warum mir nicht

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